Früher Benz, heute Rad

Immer mehr Berliner steigen aufs Fahrrad. Doch jeder hat ganz eigene Gründe und Gefühle für den Drahtesel: weil das Auto wegkam, weil man Geld spart oder weil es flotter geht und Spaß macht

von MAXIMILIAN HÄGLER

„Fahrrad fährt jeder, egal ob arm oder reich, jung oder alt, sportlich oder nicht sportlich.“ Das glaubt jedenfalls Benno Wolf, der Berliner Vorsitzende des Allgemeinen Deutschen Fahrradclubs (ADFC). Aber auf den Drahteseln sitzen eben auch oft Menschen mit ganz besonderen Geschichten und Gefühlen fürs Fahrrad.

Dieter Grönling etwa ist eigentlich passionierter Mercedesfahrer. Noch heute schwärmt der Journalist von dem „völlig überdimensionierten Sechszylinder, der nie eine Macke hatte“. Immer ruhig sei die weiße Limousine gelaufen, und ganz entspannt konnte man lange Strecken zurücklegen, auch wenn es nicht wirklich ein sparsames Fortkommen war. „24 Liter in der Stadt – damals in den 80ern haben wir noch nicht über Ökologie nachgedacht.“

Zehn Jahre lang ging alles gut, der weiße 280 SE brummte unverdrossen durch die Weltgeschichte, und die Doppelscheinwerfer blinzelten ihrer Zukunft entgegen.

Doch dann, Anfang der 90er-Jahre, inmitten der Wendewirren, stellte Grönling sein Auto in der Kolonnenstraße ab und am nächsten Tag war es weg. „Natürlich war es nicht versichert, denn wer klaut schon so eine alte Grotte“, erinnert sich der 53-Jährige mit Wehmut, weil es zwar eine „alte Grotte“ war, aber doch eine mit Geschichte. Anfang der 80er-Jahre hatte er das Auto in Marburg gekauft – damals schon zehn Jahre alt. „Vorbesitzer war ein Abgeordneter von den Grünen. Der durfte den Mercedes nicht behalten, das war ein Parteibeschluss.“

Und weil es ihn immer noch ärgert, dass ihm der Benz vor der Nase weggeklaut wurde, hat sich Grönling keinen neuen Wagen angeschafft. „Ich habe mich an den Zustand gewöhnt“, lacht er. Jetzt tritt er eben nicht mehr aufs Gaspedal, sondern fleißig in die Pedale. 20 Kilometer legt er Tag für Tag auf seinem weißen Sportrad zurück. Zwar kennt der tretfreudige Journalist den Spruch: „Der Herr bewahre uns vor Sturm und Wind und Autos, die aus Frankreich sind“, aber das gilt anscheinend nicht für Fahrräder: Seins ist von Peugeot.

Von welcher Marke ihr schwarzes Damenrad ist, weiß Anna Urban nicht, und einen Führerschein hat sie auch nicht: „Das wäre zu teuer, das Geld habe ich nicht.“ Die 24-Jährige ist Arzthelferin in einer großen Praxis. Von den vielen Honoraren, die ihr Chef für das Zähnebohren und Löcherstopfen bekommt, merkt sie jedoch nicht viel. „1.500 Euro bekomme ich, aber nach Abzug von Steuern und Versicherung bleiben da nur noch knapp 1.000 übrig.“ Und weil davon Miete, Strom und Telefon abgehen und Urban nicht nur von Brot und Wasser leben möchte, spart sie an der Mobilität. Jeden Tag fährt sie mit dem Rad von Schöneberg nach Wedding und zurück. „Wenn ich spät dran bin, geht’s gradeaus nach Norden, und wenn ich Zeit habe, mache ich einen Abstecher in den Tiergarten.“ Und selbst bei grauem Himmel und Regen spart sich Urban die Fahrt mit der Bahn, denn „das sind vier Euro zwanzig pro Arbeitstag, die ich auch sinnvoller ausgeben kann.“ Bis zum Gefrierpunkt hält sie tapfer durch mit Handschuhen und Mütze. „Erst wenn das Eis kommt, fahre ich Bahn.“

Ihren weißen Kittel hat die Arzthelferin bei ihrer Fahrt nicht übergeworfen, im Gegensatz zu den Anzugträgern, die bei schönem Wetter gut gelaunt Unter den Linden radeln. Über 200 Bundestagsabgeordnete treten nach Angaben des ADFC in die Pedale, und selbst Minister strampeln ab und an auf dem Rad ins Amt. So kann es dann passieren, dass der Abgeordnete Wolfgang Börnsen von der CDU neben dem grünen Minister Jürgen Trittin an der Ampel steht. Aber nur wenn die Sonne scheint.