Petersburger Selbstgespräche

Warum es in der Linie 22 so eng ist. Eine Busfahrt auf dem schnurgeraden Newski-Prospekt durch Sankt Petersburg mit Zwischenstopps: Zum Beispiel im Geburtshaus Nabokovs, der den berühmtesten Pädophilen der Weltliteratur schuf

von DIETMAR BRUCKNER

Am Vormittag zwischen zehn und elf Uhr aus dem achten Bezirk rein ins Zentrum: Die Linie 22 hält, ein ausrangiertes Stück aus Wernigerode, viel zu klein für Petersburger Verhältnisse, zu viele Sitzplätze, zu wenig Platz zum Stehen, und doch in einem deutlich besseren Zustand als die einheimischen Klapperkisten. Das sind lindwurmartig in die Länge gezogene Gebilde, rasend schnell unterwegs in den Außenbezirken, quälend langsam im Stadtinnern, mit einem Komfort wie in Gorkis Nachtasyl, abgewetzte, teils aufgeplatzte Sitze, aus denen der Schaumstoff quillt, und viel klapperndes Blech bei den ruckartig auf- und zufahrenden Türen. In jeder Kurve ächzen sie, als wollten sie nun endgültig auseinander brechen. Geht’s dann jedoch den schnurgeraden Newski-Prospekt hinunter, dann geben sie noch mal Stoff, dass einem angst und bange wird. Wenn das mal gut geht, diese Höllenfahrt über Petersburgs Prachtstraße! Immer auf die Admiralität zu mit ihrer goldenen, senkrecht in den Himmel stechenden Nadel! Die sieht man überall in Petersburg, daran hält man sich. Daran orientiert man sich, als Touri sowieso. Aber auch für die Einheimischen ist die Admiralität so etwas wie die alles überragende Kompassnadel in unsicheren Zeiten.

Irina steigt ein

Innen in der Wernigeroder Wackelkommode geht nichts mehr. Man steht Schulter an Schulter, Bauch an Bauch, Hüfte an Hüfte. Und an jeder neuen Haltestelle drängt noch einmal halb Petersburg in den Bus. Menschenmassen wie bei Eisenstein strömen herein und quetschen und schieben, bis du deinem Nächsten näher bist, als du es je vorhattest.

Sogar die hutzlige kleine Schaffnerin, der es bisher gelang, lautlos und geschmeidig wie eine Eidechse durch die Menge zu schlüpfen, um die obligaten zehn Kopeken abzukassieren – sogar sie verharrt nun eingekeilt wie für die Ewigkeit an ihrem Platz. Nichts geht mehr, alles ist wie immer. Was wäre das für ein Geschnatter jetzt in Neapel oder Rom, ja selbst im schwerfälligen Wernigerode. Hier ist alles still, totenstill. Man schweigt. Und schaut. Und schweigt. Sonst nichts. Vielleicht denkt man nach. Vielleicht macht man sich auch nur Sorgen wegen des Aussteigens. Dem leicht beeindruckbaren Touristen freilich erscheint es wie eine geheimnisvolle Prozession, eine Meditation.

Zum Moskauer Bahnhof führt die Ruckelzuckeltour, den Newski hinunter und über die Brücke mit den vier pathetisch aufgerichteten Pferden, von denen man immer denkt, nachts würden die ihr pathetisches Aufgerichtetsein endlich aufgeben und sich einfach hinlegen zum Schlafen. Schließlich zur Isaaks-Kathedrale, der Notre-Dame von Petersburg, einem mächtigen architektonischen Trumm auf sumpfigem Grund mit einer monumentalen goldenen Kuppel. 40 Jahre wurde daran gebaut; 400.000 Menschen waren beteiligt – das sind so die Größenordnungen, auf die man sich in Petersburg einzustellen hat.

Wenn nur die vielen Köpfe nicht wären! Keine Chance, hinauszuschauen in die wogende Stadt. Schön immerhin, dass die Russin mit den kirschrot geschminkten Lippen und dem schräg übers Ohr ansteigenden Kurzhaarschnitt sich so völkerverbindend an dich schmiegt, nur dieses schmale Ausgehtäschchen vor der Hüfte.

Kirschmund, ade !

Als sie sich an der Halteschlaufe knapp über deinem Kopf einfädelt, lächelt sie sogar. Du spürst ihren Atem, so nah ist sie. Du nennst sie schon mal Irina, probeweise. Chic gekleidet. Nicht dieses Kreuz und Quer, das sich hier viele antun. Nicht dieses postsozialistische Patchwork. Mit einem Make-up, das dezent ist und alles Grell-Kirchweihhafte meidet. Nur eben der Mund, der leuchtet. Mit ihr, da bist du sicher, wirst du gut durch Petersburg kommen. Doch Irina, der Kirschmund, steigt aus. An der Haltestelle vor der Isaaks-Kathedrale macht sie sich klein und gleitet auf halber Höhe durch die Menge. Schon ist sie über der Straße auf der anderen Seite und verschwindet in einem Bürohaus. Ohne sich auch nur einmal umzublicken, ohne ein Lächeln. Die Treulose. Geht man so mit einem Fremden um, der doch eines Halts bedarf in diesem Meer der Fremdheit?

Blini im Café Idiot

Also gut, dann eben gleich hinunter ins „Idiot“, das unterirdische Café an der Reiki Moiki, einer schmalen Gasse, die an einem der Kanäle entlangführt. Ein besseres Refugium gibt es in ganz St. Petersburg nicht. Ein paar Stufen hinunter, und man ist dem Tageslicht entkommen: Roter Plüsch, Schummerlicht, Jazzmusik. Ein unterirdischer Trödelladen mit Bildern von Gorbi und Breschnew an der Wand, gleich daneben Laurel and Hardy, und am Eingang steht die Schreibmaschine, an der Dostojewski seinen Roman getippt haben soll, möglicherweise, wer will das schon so genau wissen. Nirgendwo ist Petersburg lässiger, selbstironischer als in dieser Katakombe. Nirgendwo sonst simuliert es so beflissen westliche Lebensart. Vegetarisch essen kann man hier, ein Gemüsefondue zum Beispiel, oder eben den „Idiotburger“, eine Kreation des Hauses, aus der der Schmelzkäse nur so herausquillt. Und wenn der Wirt gut gelaunt ist, gibt’s sogar die Petits Fours vom Konditor nebenan, denn der kommt aus Paris und weiß, wie man so was macht. Das Bier wird natürlich frisch gezapft und schmeckt wie Warsteiner; dazu isst man Blini, gefüllt mit rotem Kaviar, oder eine Soljanka. Und wenn manzur Toilette geht, streichelt man im Vorübergehen dem Lenin im Hinterzimmer über seinen Milchglasschädel. Good bye, Lenin, ciao, Irina!

Anschließend schaust du am besten bei den Nabokovs vorbei, in der Bolschaja Morskaja 47, gleich auf der anderen Seite des Kanals. Museum und internationale Forschungsstätte ist es, das Haus, wo Nabokov, der unrussischste aller russischen Autoren, am 22. April 1899 geboren wurde. Der Literaturwissenschaftler Wilhelm Starck hat es vor ein paar Monaten ins Leben gerufen. Inzwischen finden hier internationale Kongresse statt, mit der Crème de la Crème der Nabokov-Forscher aus aller Welt, die sich die Jazzplatten des Meisters anhört, Vorträge zu dessen Schmetterlingspassion hält und seinen Sommersitz in Roshdestweno besucht.

Besuch bei den Nabokovs

Nicht auszuschließen, dass irgendwann auch die russische Kulturpolitik ihre Haltung überdenkt. Noch verharrt sie in trotziger Schizophrenie. Einerseits ist da die Berührungsangst einem Autor gegenüber, dem noch immer der Ruch des Skandalösen anhängt, der mit der Doktrin des sozialistischen Realismus nie etwas am Hut hatte. Also gibt der Staat keine müde Kopeke für das Nabokov-Museum, das sich wiederum rühmen kann, das einzige Literaturmuseum Russlands ohne öffentliche Zuschüsse zu sein. Andererseits ist Nabokov auch in Russland bereits Schulbuchautor, also kanonisiert, also rehabilitiert. Im größten Buchkaufhaus am Newski-Prospekt ist sein Werk mit der gleichen Selbstverständlichkeit präsent wie das von Turgenjew oder Gogol.

Wo also, wenn nicht hier, ließe sich Nabokovs gedenken. Hier hat, bis zum Alter von achtzehn Jahren, der Mann gelebt, der den berühmtesten Pädophilen der Weltliteratur schuf: Humbert Humbert, den Mann, der die Frauen liebt, besonders aber die jungen, sehr jungen Frauen. Und der dafür von ihnen, Gerechtigkeit muss sein, ins Verderben gestürzt wird.

Zuvor jedoch erlebt er den wunderbarsten Kirschmund-Traum, den man sich vorstellen kann, und er nennt ihn „Lolita“,

Wenn nur das Viertel nicht so bedrückend wäre! So heruntergekommen, so rüde alltäglich! Als wolle sich die Stadt, die ihn schon einmal vertrieben hat, an ihm rächen, ein letztes Mal. Gleich um die Ecke eine Straße wie ein Feldweg, ohne Aspaltdecke, dafür mit den ortsüblichen Schlaglöchern. Schräg gegenüber die hohe, frei stehende Mauer mit den zerbrochenen Fensterscheiben, eine potemkinsche Kulisse, dahinter türmt sich Sperrmüll. Vor dem Haus chaotischer Lieferverkehr in der zweiten Reihe, von Ferne das Geräusch eines Presslufthammers.

Hier also, im „Haus aus rosa Granit mit Fresken und anderen italienisierenden Ornamenten“, wurde Vladimir Nabokov geboren, und hier hat er bis zu seiner Vertreibung durch die Bolschewiki im November 1917 residiert: Vielleicht war es ja das einzige wirkliche Zuhause, das der bekennende Kosmopolit je hatte. Jedenfalls schwärmt er in seiner Autobiografie „Erinnerung, sprich“, die er gut ein halbes Jahrhundert später in Amerika veröffentlicht, ausgiebig vom großbürgerlichen Domizil in St. Petersburg: Wie bei einem Ortstermin beschreibt er die Eingangshalle mit ihrem großen Kamin, das Boudoir der Mutter mit dem Erker im ersten Stock und sein Zimmer, das genau darüber im dritten Stock lag. Auch der Grüne Salon und die Bibliothek, wo sich der kleine Vladimir frühmorgens mit seinem Vater traf, um gegen ihn im Boxen und Fechten anzutreten, werden beschrieben mit der liebevollen Akribie eines Protokollanten, der Buch führt für die Zeit nach ihm.

Petersburg, das ist sicher, wird ihn noch entdecken, seinen Nabokov. Und erst wenn es ihn, den verlorenen, nein, den vertriebenen Sohn wieder bei sich aufgenommen hat, wird es ganz es selbst sein.