BERLIN - VON KENNERN FÜR KENNER
Strandgut

Leerstelle (5): Ein archäologischer Versuch an der Bernauer Straße

An dieser Stelle beschäftigen sich Franziska Hauser (Fotos) und Thomas Martin (Text) vierzehntäglich mit den Nebenstellen des Lebens.

Als in Klimakatastrophenzeiten viel gebrauchte Metapher muss der Fluss herhalten. Das Leben, es verlaufe wie ein träger, gelegentlich reißender Fluss, der von der Quelle kommend ins Meer mündet, das wieder für den Tod und alles Leben steht zugleich. Es gibt den soziologischen Topos des social river, in dessen Mitte die Mehrheiten treiben, an dessen Ufer die sozial Deklassierten gespült werden, auf dessen Grund die Namenlosen enden. Und so weiter.

Die gut belegte Straße kann zum Katarakt mutieren, zur Stromschnelle wider Willen, die Metapher kann vom Realitätsgehalt ganz wörtlich weggeschwemmt werden. Nimmt der Fluss sein ihm zugehöriges Bett wieder an, wird an seinen Ufern immer etwas bleiben, Versatzstücke der Normalität, die in außergewöhnlichen Umständen hier strandeten und ihren gewohnten Zusammenhängen entrissen plötzlich selbst Metapher sind. Man muss das nicht im Auge haben, grell und kräftig wie Signale, eher gilt es die Reste freizulegen, in der Regel sind sie unter dem Blick des Alltäglichen versteckt, zu bekannt, um noch erkannt zu werden. Fahrräder beziehungsweise ihre postmortalen Einzelteile gehören dazu, und sie sind überall zu finden: an Laternenpfähle, Treppengeländer, Zäune oder sonst dem Zweck nicht zugedachte Gestänge geschlossen, von Passanten aus unterschiedlichen Beweggründen stückweise demontiert.

Im pflastersteinbelegten Hinterland der Schwedter Straße, nahe Bernauer, findet sich in entlaubten Gebüschen, an das Rudiment einer Stahlkonstruktion gelehnt, ein so genanntes Herrenrad. Genauer das, was davon blieb, die gute Hälfte eines Rades. Lenker, Rahmen, Hinterrad, ein offenes Schloss. (Der unbekannte Fahrer und sein Schicksal bedeuten hier übrigens nichts.) Ein nach rechts wie links aus dem Bild führendes Kabel, dessen Funktion schlimmstenfalls der Unterstromsetzung des abgestellten Rades zur Sicherung vor Diebstahl zugeschrieben werden kann, unterläuft die Komposition. Das Kabel steht metaphorisch gesehen ebenfalls für eine Art Fluss oder dessen Führung: Strom könnte hindurch fließen, und die eher zufällig zustande gekommene Schlinge oberhalb der Bordsteinkante kann als trockne Welle der verebbten Wasserstraße angesehen werden.

Das kleine Gerüst gibt mehr Rätsel auf. Es ragt aus der Erde und könnte, schwer zuzuordnen wie es ist, ein Stück Alles oder Etwas sein. Etwas bleibt übrig von allem, etwas ragt oben heraus, weist unverstanden in die Tiefe. Eine ursprünglich schwenkbar montierte Gittertür zum Keller eines längst abgetragenen Hauses; die Krone eines Klettergerüstes, an dem Kinder sich in Schweinebammel übten; eine nur behelfsmäßig einmal aufgestellte Sperre zur Regelung einer politischen Bewegung Richtung Bernauer Straße; die Reling einer Spreebarkasse, stecken geblieben in märkischer Sandbank; der Ausguck eines Ozeanriesen, den die letzte Eiszeit überrascht hat, oder bloß ein Teil von etwas. Falls hier vor Zeiten etwas anders war, nicht mehr zu Erinnerndes, doch irgendetwas war.

THOMAS MARTIN