Von mütterlichem Gebaren

Müllers Listen: Der Neue Berliner Kunstverein zeigt mit „Album“ eine große Einzelausstellung des international bekannten Bielefelder Videokünstlers und Experimentalfilmers Matthias Müller

VON BRIGITTE WERNEBURG

Der Mensch erstellt Listen. Die Preise für Gebrauchtwagen, die zehn besten Filme des Jahres, alle Musikwerke Mozarts und, apropos Mozart, natürlich die Liste aller Männer, die frau jemals besaß: Alles lässt sich auflisten. Und so lässt sich auch alles systematisieren, vergleichen und kritisieren, wurde die Liste nur richtig angelegt. Nicht erst seit Foucault „eine gewisse chinesische Enzyklopädie“ bei Borges zitierte, die Tiere, die dem Kaiser gehören, und solche, die mit dem Kamelhaarpinsel gemalt sind, inventarisiert, ist klar, dass Listen auch allerlei Unsinn anrichten und zu großem Gelächter anstiften können. Gelächter, das freilich das Denken in Bewegung setzt, wie der französische Philosoph richtig bemerkte.

Matthias Müllers „Album“ im Neuen Berliner Kunstverein (NBK) belegt nun, dass Listen selbst in Form von Kunstwerken auftreten. Die aktuelle Ausstellung des 1961 geborenen Videokünstlers und Experimentalfilmers zeigt seine Foto-, Film- und Videoarbeiten der letzten vier Jahre. Die einzige ältere Arbeit ist der 15-minütige Film „Alpsee“ von 1994. Wie in seinen anderen Arbeiten wird auch in diesem biografisch inspirierten 16-Millimeter-Film – in Berlin als DVD-Loop gezeigt – eine Liste erstellt. In einem typischen 60er-Jahre-Ambiente angesiedelt und vom Blickpunkt einer kindlichen Wahrnehmung aus handelt sie von typisch mütterlichem Gebaren; von haushälterischen Gesten wie dem Öffnen von Gläsern und Dosen oder dem Schließen von Türen, Fenstern und Schubladen; zuletzt dem Wegschließen des Fernsehgeräts. Auch der Ausdruck der Zuneigung und des Trostes findet sich. Allerdings wird dabei die ursprüngliche, von Müller inszenierte Szene mütterlicher Zuwendung in der seriellen Wiederholung des gleichen Motivs entwertet, das sich der Filmemacher aus amerikanischen Fernsehserien borgte.

Schon diese Aufzählung macht deutlich: Müllers Listen sind keine lustigen Listen, sie sind Listen der Beunruhigung. Listen des Unheimlichen, des Verdrängten, des Verräterischen, des allzu Ähnlichen gerade dort, wo die Unterschiede zählen. Sie bringen das Denken durch Beunruhigung in Gang. Nicht von ungefähr heißt die achtteilige Serie von Schwarz-Weiß-Fotografien, auf die man gleich beim Eintritt in den Galerieraum stößt, „Conspiracy“ (2001). Für diese Arbeit hat Müller die Porträtaufnahmen von Menschen jeglichen Alters und beiderlei Geschlechts, die er im Müllcontainer eines Fotostudios fand, zu Personengruppen gerahmt. Was aber rechtfertigt nun den Titel, der von Verschwörung spricht? Liegt diese darin, dass es einen gemeinsamen Nenner zu suchen gilt, der die Porträts genau dieser – und nicht anderer – Personen in einen Rahmen bringt? In der erhöhten Aufmerksamkeit also, die die Anordnung erzwingt? Und sind es wirklich die Halsketten, die Norwegerpullover, Brillen, Strickjacken oder Kleider mit den Polka Dots, die die Porträtierten zu je einer Gruppe vereinen?

Es liegt nahe, in diesem alltäglichen Inventar gleichartiger Elemente eher eine Mengenbildung zu sehen als eine Liste. Doch für die reine Mengenlehre sind Müllers Filme zu wenig hermetisch, ist ihre Ordnung zu wenig stringent, stehen zu viele Systematisierungsmöglichkeiten wie Farbe, Material, Gesten oder Attribute zur Auswahl. Die Ordnung der Dinge ist bei Müller eben nicht allein in deren Eigenschaften begründet, sondern auch in seiner ganz persönlichen Sicht. Die eigentlich leere Form der Liste, die nie zufrieden stellend besagt, warum etwas in sie Eingang findet – denn was jenseits ihrer Veröffentlichungszeit und -form hätten etwa die zehn besten Filme des Jahres schon gemeinsam? –, scheint Müllers Methode mehr zu entsprechen. Seine Kataloge produzieren ganz subjektiv Beziehungen, vielleicht sogar Verschwörungen, in jedem Fall aber Erzählungen. In ihnen verfängt man sich, und man verliert sich in den fragmentarischen Sequenzen selbst, die in Müllers sensibler Montage nicht nur mögliche Geschichten andeuten, sondern oft selbst schon eine sind.

Gerade die titelgebende Arbeit „Album“ (2004) ist eine völlig persönliche, idiosynkratische Liste von Bildern und das Versprechen einer Erzählung zugleich. Matthias Müller reiht hier Videoaufnahmen aneinander, die er auf seinen Reisen machte, Stadtansichten, Landschaften, Innenräume, Straßen und immer wieder das Meer. Die Bilder trennen kurze Texte, die im Stil eines Tagebuchs Erinnerungen, Gedankenspiele oder simple Notizen festhalten. Das Leben scheint ein ruhiger Fluss; doch in jedem Moment, in dem man glaubt, Müllers Entwicklungsroman beizuwohnen, erfährt man, dass auch die Sätze durch die Bilder getrennt sind. Und beide sind sie unverbunden, offen, autonom, Strudel oder Wirbel eher denn ein ruhiger Fluss.

Man könnte sich aus dem ein oder anderen Bild selbst wieder eine kleine, geheimnisvolle Geschichte zusammenreimen, wie sie die Arbeit „Pictures“ (2002) zeigt. Im rechten Rahmen eines Doppelfensters, unter dem das Wort „Pictures“ als Teil eines Reklameschilds zu lesen ist, steht eine Frau. Doch weil ein Rouleau die obere Hälfte des Doppelfensters und damit auch ihr Gesicht verdeckt, ist nicht zu erkennen, wohin sie schaut. Der zweiminütige Loop scheint ein still gestelltes Bild zu sein, bis die Frau sich plötzlich bewegt. Sie spaltet sich, ihre zweite Gestalt geht ein paar Schritte nach links, bis sie im anderen Fensterrahmen im Profil zu erkennen ist. Doch bald bewegt sie sich wieder, dreht sich um und verschwindet in der Tiefe des Raumes. Die Doppelansicht währt nur wenige Sekunden.

Die traumartige Sequenz, die nicht ohne melodramatisches Pathos ist, verweist doch das etwas angerostete, in altmodischer Typografie gestaltete Pictures-Schild auf das Kino vergangener Tage, führt zurück zu den frühen Arbeiten von Müller. Die Leerstellen in ihnen, die aus den Reihungen stammen, die Müller unter Ausschaltung des Schemas von Schuss und Gegenschuss montiert, wurden dort gerne als die unheimliche Gegenwart des Unsichtbaren gelesen; als eine mysteriöse und gespenstische Qualität, die sowohl Grauen wie Spannung beim Betrachter hervorruft. Eine Qualität, die Matthias Müllers jüngste Arbeiten, wie sie im NBK zu sehen sind, immer weniger aufweisen. Die Fotoserien „Wedding Bouquets“ (2004) oder „Smoke“ (2004) wie die Videoloops „Promises“ (2003) und „Container“ (2002), die Hochzeitssträuße oder die Porträtfotografien aus „Conspiracy“ in Bewegungen bringen, fallen eher als analytische Verzeichnisse auf denn als Mystery novels, als die man frühere Filme wie etwa „Home Stories“ (1990), einen Zusammenschnitt verängstigter Hollywoodheldinnen wie Lana Turner, Kim Nowak, Tippi Hendren oder Jane Wyman, betrachten konnte.

Wem bei diesen Namen Hitchcock einfällt, ist auf der richtigen Spur. Spätestens mit seinen „Phoenix Tapes“, die er 1999 gemeinsam mit Christoph Giradet im Auftrag des Museum of Modern Art in Oxford für eine Ausstellung zum 100. Geburtstag des Regisseurs. zusammenstellte, wurde Matthias Müller, der in Bielefeld lebt und arbeitet, international bekannt. In sechs Einzelfilmen kompilierte Müller Szenen aus 40 Hitchcockfilmen, die zur profunden Hommage an den Filmemacher werden wie gleichzeitig zur kritischen Untersuchung von dessen thematischen Obsessionen. Kathrin Becker, Leiterin des Video-Forums des NBK, organisierte die erste große Einzelausstellung des mit Preisen überhäuften, auf der documenta X, im Whitney Museum in New York oder in der Tate Modern in London präsentierten Künstlers in einer öffentlichen Einrichtung in Deutschland. Endlich glänzt auch eine Berliner Institution mit einem eigenständigen, innovativen Ausstellungsprojekt.

Bis 2. Mai, Katalog (Revolver Verlag) 25 €