Der Wurzelmensch

Wollte sie nie ein Star sein, der Jazz singt? „Nein, das wäre nicht von Herzen gekommen“

aus Riga JAN FEDDERSEN

Der Omnibus kommt nur mühsam aufs Land hinaus. Gleich hinter dem Bahnhof, dort, wo Riga wieder eindeutig zur osteuropäischen Stadt wird, wo das riesige Marktgelände rund um die Zeppelinhangars Russisches und Lettisches, aber auch Polnisches und Litauisches vermischt, wo feinster Honig ebenso wie billige Schuhe angeboten werden, guckt sie aus dem Fenster und sagt: „Hört mal, Mädels, da müssen wir morgen hin. Merkt euch mal den Weg.“ Die Mädels, das sind die Frauen im Tross des Komponisten Ralph Siegel, Choristinnen, Stylistinnen und Pressebetreuerinnen. Sie nicken und sagen: „Ja, gebongt.“

Aber alle wissen: Lou wird diesen Markt niemals sehen, niemals besuchen, sie wird nie im Leben dort schlendern und shoppen. Erstens ist diese Welt zu arm für alle, die in dieser Woche auf Lou aufpassen, jedenfalls viel ärmer als die gewöhnliche Boutiquenwelt in München, aber zweitens hat Lou für solche sinnfreien Aktivitäten auch gar keine Zeit. Morgen wird wieder geprobt in Riga, auf der Bühne, auf der die 39-Jährige vielleicht die Hoffnungen Deutschlands, gewiss – und unverhohlen – jedoch die Erwartungten Ralph Siegels auf einen Sieg bei der Eurovision bedienen soll. Und dann sind da noch die Interviews, die Kostümproben, dieser gewisse Druck des Teams, dessen Aufmerksamkeiten ständig um sich selbst kreisen. Überall heißt es Schätzchen und Schatzi und Süßes und Lieber. Eine Familie, wie man sie nur erfinden kann, weil es sie in Wahrheit nicht gibt.

„Ich muss auch meine Ruhe kriegen“, sagt Lou, womit auch gemeint ist, dass sie es nicht wirklich ernst meint mit touristisch inspirierten Exkursionen irgendwo an der Peripherie des wohlhabenden Europa. Denn die Wahrheit ist ja auch: Lou kann gar kein No-name-Produkt im deutschen Tingelwesen mehr werden, aber so im Mittelpunkt stehen wie jetzt wird sie nie mehr.

Auch für Lou zählt dieser Event zu den wichtigen Daten. Sonnabend kurz nach Mitternacht wird entschieden, ob sie künftig auf dem Markt der Galas, der Festzelte und Geburtstagsfeiern eine Nummer ist oder ein Nümmerchen. Wobei Lou, so sagt sie, „nicht undankbar ist“. Im Herbst 2000 war sie mit ihrer Band für das Oktoberfest angeheuert worden. Ralph Siegel ließ es sich ebendort gut gehen und erkannte in Maria Louise Hoffner eine Stimmungskanone, die selbst bei Trauerfällen noch einen Auftritt stehen würde. So eine fällt nicht um, denn so eine weiß, wie es ist, sich ein Geschäft aufzubauen.

Kind einer Großfamilie, setzte man große Hoffnungen in sie, schickte sie aufs Gymnasium. Aber dort hatte sie „keine Lust aufs Lernen, was ich ja heute bedauern kann, aber so what, da kann ich nicht lange drüber nachdenken“, wie sie in ihrem Dialekt sagt, der so klingt wie der von Boris Becker. Von der Schule geflogen, einige Zeit auf der Hauswirtschaftsschule, Apothekenhelferin gelernt, denn die Mutter sagte, sie müsse was lernen. Dann eine Kneipe, deren Ende auch in finanzieller Hinsicht unglücklich ausfiel. Die Kneipenzeit in Göppingen war die einzige, die Lou nicht in Wurfnähe zum Elternhaus verbrachte – nach dem gastronomischen Ausflug ging sie wieder nach Waghäusel zurück. Dorthin, wo sie geboren wurde, wo ihre Schwestern und Brüder wohnen und wo sie, das sagt sie immer wieder, „eine unendlich schöne Kindheit lebte“.

Lou macht sich nichts vor: „Ich bin kein Weggeher. Bin eher so’n Wurzelmensch.“ Hat in ihrer Kindheit Schlager gehört und hört sie immer noch gern. Zählt Karel Gott zu ihren Freunden und Michael Holm zu ihren größten Förderern. „Der hat zu mir gesagt, Mensch, du hast ne Stimme wie’n Messer.“ Sie wusste diesen Zuspruch immer zu schätzen, obwohl ihr Selbstvertrauen nicht gering war, als sie vor zwölf Jahren anfing, mit ihrer Band auf Festen zu singen. Nicht auf der Bühne, viel schlimmer, die Ochsentour hat Maria Louise Hoffner absolvieren müssen: Um die Stimmung für den Act auf der Bühne – heißt er nun Pur, Roberto Blanco oder eben Michael Holm – anzuheizen, auf dass er schon mit Beifall beginnen kann, mussten Lou und die Ihren ohne Mikro, „unplugged, ehrliche Musik“, in die Zuschauerränge und quasispontan singen. „Schneewalzer oder Let It Be, war egal, wir haben alles draufgehabt, was die Leute mögen, alles was ankommt.“

Und das ist das genaue Gegenteil von dem, was in den besseren Kreisen ankommt. Wollte sie denn nie ein Star sein, der Jazz singt, oder wenigstens in den Kanon jener, die von Hits nichts halten? „Nein, das habe ich nie gekonnt. Das wäre nicht von Herzen gekommen. Ich kann ja nicht so tun, als würde ich Schlager verabscheuen. Ich singe, was die Leute wollen.“ Was eben die echten Hits der Deutschen sind – „sehr down to earth, so erdverbunden“.

Mit Lou zu sprechen heißt in diesem Sinne, nicht mit einem Star zu sprechen, mit einer Frau samt Aura, die undurchdringlich scheint, sondern mit einer Nachbarin, mit der man über eine geliehene Tasse Mehl auf das Freundlichste ins Plaudern kommt: ohne Allüren, allerdings auch ohne diesen Appeal von Entrücktheit, der aus freundlicher Verbundenheit zu einem Entertainer erst wahre Anhängerschaft, ja rasende Begierde nach ihm oder ihr entstehen lässt. Lou ist, so gesehen, keine kostbare Ware, die rar ist und der man nachlaufen muss. Sie singt, was man ihr gegen Gage zu singen aufträgt – und das ist eben dieses Jahr Ralph Siegels „Let’s Get Happy“.

Fragt man sie, ob sie Träume habe, verneint sie: „Ich bin glücklich mit dem, was ich habe.“ Auslandsreisen? „Bin beruflich viel unterwegs gewesen. In Dubai und Cannes.“ Cannes? „Ja, Filmfestspiele. Cannes kann schön sein“, kalauert sie unfreiwillig, aber dieses Jahr nicht. „Jetzt bin ich in Riga.“ Der Umsatzverlust wird ja kompensiert. Nächstes Jahr wird sie wieder von Filmkaufleuten auf Jachten eingeladen, dann kostet sie mehr – dank des Grand Prix. „Ich mache mir keine Illusionen. Ich betreibe Handwerk. Ich kann den Leuten gute Stimmung machen. Das wollen sie, und dann will ich es auch.“

Privat ist sie nur selten gereist. „Ich bin gern zu Hause. Und gehe gern zur Arbeit. Aber nach ein paar Tagen will ich wieder heim.“ Eigentlich, dürfte man einwenden, führt sie doch ein Leben, wie es ihre Eltern nicht geplant haben – stets on tour, als sei jeder Ort ein Fluchtpunkt. Hat sie nie den Wunsch gehabt, wie ihre Eltern eine Großfamilie aufzuziehen, viele Kinder zu haben? „Kinder? Hat sich nicht ergeben. War mal zu früh, dann gab es keinen Partner – und jetzt ist es zu spät.“

Stört es sie nicht, verachtet zu werden, weil sie nur Handwerk betreibt? „Ich kann mir nicht vorstellen, dass man mich verachtet. Ich verachte doch auch keinen.“

Im S.O.S.-Kinderdorf Islice, wohin man sie eingeladen hat, ist sie zwei Stunden der Star. Fünf Dutzend Kinder singen ihr vor, bitten um Autogramme und wollen von ihr berührt werden. Ralph Siegel hat als Gastgeschenk Lou-Poster und -Aufkleber mitgebracht, obendrein gegen eine Quittung noch eine Spende geleistet: Für die Fotografen dankbare Motive, um Lou für das Milieu der Freizeit Revue-Leser gelitten zu halten. Lou sagt später im Bus: „Ich hätte sie am liebsten alle mitgenommen. So rührend.“ Was aus jedem anderen Mund irgendwie fies geklungen hätte, wirkt bei ihr wie die Aussage einer Frau, die niemandem Arges und am liebsten alles zum Besten geregelt wissen will. „Einmal um die ganze Welt“ ist ihr Lieblingsschlager. Es bedeutet für Lou, dass sie immer wieder heimkommen will. Einmal die Welt in Riga – und dann wieder Waghäusel. „Mittwoch geh ich wieder zur Arbeit“, sagt sie.

Nicht wieder als Einheizerin, sondern erstmals auf der Bühne. Dafür hat sie in Kauf genommen, viele, viele Pfunde abzuspecken, obwohl sie so gerne isst. Hat auf Wein verzichtet, sogar das Rauchen hat sie auf Gelegenheiten reduziert. Man merkt ihr den Stress an, denn die Wirkung des Antifaltenmittels, das sie sich angeblich hat spritzen lassen, kann man am Ende dieses Ausflugs ins S.O.S.-Kinderdorf nicht erkennen. Sie sieht natürlich aus, viele Lachfalten, freundlich und herzlich. Montag wird sie keinen stylistischen Zumutungen mehr ausgesetzt sein, dann darf sie wieder singen, wie es ihr gefällt. Und aussehen. Mehr kann sie sich nicht verdienen.