Sie rasen um ihr Leben

Mit Tempo 210 über Deutschlands Autobahnen: Die einen sind Getriebene, Gehetzte. Sie haben einen Job, und deshalb stehen sie unter Druck. Die anderen sind die Jäger der Raser

VON NADJA KLINGER

„Was ist, wenn eine Frau im Wohnzimmer steht?“

Thieson fragt das, der Mann hinterm Lenkrad. Er hält das Auto bei Tempo 90 auf der rechten Spur, und dabei fällt ihm dieser Witz ein. Sein Kollege Tornow auf dem Beifahrersitz zuckt mit den Schultern.

„Mist!“, schreit Thieson. Plötzlich gibt er Gas. Im Nu ist sein schwarzer Daimler auf 130 und geht in die linke Spur. 140, 150. „Mist, ’ne Sekunde zu spät reagiert!“ 170, 190. „Gleich haben wir ihn“, sagt Tornow. Auf dem Videobild vor ihm in der Armatur taucht das Heck eines silbernen Wagens auf. Sie ziehen an diesen Wagen heran. „Jetzt“, sagt Tornow. Der Silberne ist mitten im Bild. „Wie viel?“, fragt Thieson. „210“, sagt Tornow. Dann überholen sie und schalten die Leuchtbuchstaben im Heck ein. BITTE FOLGEN, POLIZEI! Sie ziehen einen dicken Fang von der Autobahn. Man durfte hier nur 130 fahren. „Was ist, wenn eine Frau im Wohnzimmer steht?“, fragt Tornow. „Dann ist die Kette in der Küche zu lang“, antwortet Thieson.

So ungefähr, wie ein Witz, funktioniert der Straßenverkehr. Situationen sind nicht die, nach denen sie aussehen. Überraschungen halten sich bereit. Man muss die Regeln kennen, aber besser noch die Menschen, um zu ahnen, was passieren könnte.

Im letzten Sommer hat ein Raser einen tödlichen Verkehrsunfall verursacht. Eine Gerichtsverhandlung in Karlsruhe sollte herausfinden, ob es tatsächlich der Mercedes-Testfahrer „Turbo-Rolf“ war, der durch aggressives Fahren einen Kleinwagen von der Autobahn gedrängt hatte. Es gab Indizien. Es gab Zuschauer im Saal, die grummelten und murrten, wenn ein Zeuge Anstalten machte, hohe Geschwindigkeiten partout zu verteufeln. Es gab die Zuschauer landesweit. Der Verkehrsclub Deutschland forderte ein Tempolimit 120 auf allen Autobahnen. Der ADAC wollte Linksdrängler hart bestraft sehen.

Lediglich Gurte, Knautschzonen und Airbags versprächen Sicherheit auf Autobahnen, schrieb die Presse. Anders ausgedrückt: Deutsche in ihren modernen Wagen beschützen sich nicht selbst, etwa indem sie vorsichtig fahren. Erst recht scheren sie sich nicht um Menschen in der Spur nebenan.

Fahren sei nicht nur eine technische Angelegenheit, stand in der Zeitung, sondern Autos müssten auch sozial beherrscht werden. Leser antworteten, sie wären lieber mit professionellen Testfahrern und über 200 Sachen unterwegs als mit Oberlehrern, die auf der linken Spur den Verkehr aufhielten.

Hinter der Autobahnabfahrt steigt Polizeiobermeister Siegfried Thieson aus und geht zu dem silbernen Wagen. Michael Tornow hält Abstand und sichert. Er ist Kommissar, seit 17 Jahren bei der Polizei. Er steht breitbeinig. In seinem Oberkörper stecken die Jahresabos vom Fitnessstudio. An seinem Gürtel steckt die Waffe. Auch Thieson, der sich jetzt vom Fahrer die Papiere geben lässt, ist bewaffnet. Vor allem aber besitzt er Erfahrungen. Seit acht Jahren verfolgt er beim Videotrupp der Polizei in Neuruppin Ordnungswidrigkeiten und Straftaten auf Brandenburgs Autobahnen.

Fast alle Täter haben mit den Polizisten etwas gemeinsam: Sie haben was zu tun. Sie haben Termine, einen Chef, ein Gehalt. Sie haben Arbeit. Was sie von Polizisten unterscheidet: Auf der Autobahn könnten sie ihren Job verlieren. Beispielsweise indem sie zu langsam sind. „Die meisten Fahrer stehen unter Zeitnot. Sie können Termine nicht einhalten, ohne auf der Autobahn gegen Gesetze zu verstoßen“, sagt Thieson.

„Und jetzt?“, fragen die, die er aus dem Verkehr gezogen hat.

„Das können Sie sich ausrechnen“, antwortet er. Aus jedem Vergehen resultiert eine logische Strafe. Allein die Realität folgt einer anderen Logik. Unter Umständen muss der Bürger eine zu hohe Geschwindigkeit halten, um im Rennen zu bleiben.

Schlechtem Wetter passen sich die deutschen Autofahrer sofort an. Als hätten sie mit nichts so viel Übung. Kommt die Sonne raus, drehen sie durch. Man gibt Gas, prescht los, über die Grenzen der StVO hinaus. Man kann ein Risiko eingehen. Nicht im Leben. Im Auto schon. Siegfried Thieson sagt: „Für viele Menschen ist das Auto eine Waffe.“ Sie verteidigen die Tatsache, dass sie durchaus wer sind. „Andere fühlen sich endlich zu Hause. Das Auto ist ihr Revier, in dem ihnen niemand was anhaben kann.“

Sie brauchen nur die Scheinwerfer einzuschalten. Das ist das Signal: Achtung, jetzt komme ich! Die mit den hellsten Strahlern gehören zur Klientel des Videotrupps. „Wie kleine Kinder krauchen sie aus dem Auto, wenn wir sie angehalten haben“, sagt Michael Tornow.

Mehr als 30 Stundenkilometer müssen Autos zu schnell sein, ehe der schwarze Daimler sie verfolgt. Der teuer ausgestattete Videotrupp sucht die A10, 24, 111 und 114 nach aggressiven Fahrern ab. Nach Dränglern, die andere nötigen auszuweichen. Er misst Sicherheitsabstände. Wenn ein Raser noch das Handy benutzt, notorisch links fährt oder wenn ein Kindersitz fehlt, gibt es noch kleine Zusatzstrafen „als Kompott“. Es geht um „Tatbestände“, wenn Thieson Gas gibt. „In den letzten Jahren hat aggressives Fahren zugenommen“, sagt er. Es geht ihm um die Führerscheine. Ums Eingemachte. Um die Existenz.

Ein junger Mann fährt 180 auf einer 120er-Strecke. Auf dem Video sieht man außerdem, dass er viel zu dicht aufgefahren ist. „Wenn ich den Führerschein verliere, ist mein Job weg“, murmelt er. „Was, wenn der Wagen vor Ihnen gebremst hätte?“, fragt Thieson. „Ich hätte auch gebremst“, sagt der Mann. „Ne!“ Der Polizist winkt ab: „Draufgerasselt wären Sie!“ – „Sie haben ja Recht“, sagt der Mann und reicht den Polizisten die Hand.

Sie flehen um Milde

Sie werden ihn vor Gericht sehen, vielleicht, mit ziemlicher Sicherheit. Die meisten „Tatbestände“ treffen sie dort wieder. Die Raser streiten ab, obwohl die Polizei das Video hat. Oder sie flehen um Milde. Das Gericht soll anerkennen, dass ein sozialer Härtefall droht. Der Führerscheinentzug soll in eine Geldstrafe umgewandelt werden. Siegfried Thieson tun die Leute nicht Leid. Von ihm hätte „Turbo-Rolf“ nicht anderthalb, sondern fünf Jahre Gefängnis bekommen.

Dann hätte Thieson vermutlich Morddrohungen erhalten, wie die Richterin beim Prozess in Karlsruhe. Seine Polizeikollegen hätten ihn massiv beschützen müssen. Kann ein Unglück nicht ein Unglück sein? Muss immer jemand verantwortlich gemacht werden?, hätten die Leute ihm zugerufen. „Klar!“, hätte Thieson geantwortet. Seine Religion sind die Fakten. „Es gibt sieben Todsünden“, sagt er. Basta. „Die allergrößte Sünde: rechts überholen.“

Letztlich ist die Autobahn auch ein Stück Realität. Niemand kann sich herausreden. Ich hab kein Schild gesehen, sagen Autofahrer. Ich fahre sonst nicht so. „Wenn Sie dringend zur Toilette müssen“, fragt Tornow, „warum sind Sie an den letzten drei Parkplätzen vorbeigefahren?“

Noch ein Fakt: Frauen rasen auch. Aber sie fahren kaum aggressiv. „Und sie haben bessere Ausreden“, sagt Thieson.

„Ihr geht’s schlecht“, erklärt ein Raser und meint seine schwangere Frau. Die Polizisten rufen einen Arzt. Der kann nichts feststellen. Also sehen sie sich mit dem Pärchen das Video an. Sie spulen versehentlich zu weit zurück. Sie sehen die Raststätte, an der zuvor ein anderer Verkehrssünder gestellt wurde. Und wer läuft da durch den Bildhintergrund? Der Raser und die Schwangere, der es so schlecht geht! Sie kommen, alle Hände voll Essen, von McDonald’s. „Inwiefern haben Frauen bessere Ausreden?“, fragt Tornow. „Sie plappern drauflos, ohne zu überlegen“, sagt Thieson. „Da braucht man keinen Arzt zu holen. Die reiten sich selber rein.“

Der schwarze Daimler war schon im Fernsehen. Bevor sie einstiegen, mussten Journalisten unterschreiben, dass sie bei einem Unfall keinen Schadenersatz wollen. „Ist ja nie was passiert, auch bei 240 nicht“, sagte Thieson. Fügte allerdings Folgendes hinzu: Wer sich übergibt, achte darauf, nicht den Fahrer im Nacken zu treffen!

Manchmal wechselt er dreimal am Tag das Nummernschild. Manchmal wird er beim Einkaufen angesprochen. Die Leute finden gut, was er macht. Viele aber auch nicht. Sagen wir es so: Man kennt ihn aus dem Fernsehen, aber er ist kein Star.