Pokerspiel mit schönem Ende

Der VfB Stuttgart lässt sich von Energie Cottbus in die Champions League schießen und liefert seinem Trainer Felix Magath allerlei Gründe und Millionen, um seinen Experimentierkurs mit den jungen Wilden nächste Saison doch noch fortzusetzen

aus Stuttgart MARTIN HÄGELE

Die alte Frau vorm Stadion fasste den Reporter an der Hand: „Geht der Magath wirklich, was meinen Sie, ganz ehrlich?“ Es sehe nach Abschied aus, antwortete der Journalist. Dann müsse man etwas unternehmen gegen den VfB-Vorstand, sagte die Frau. „Jetzt betrügen sie uns schon wieder. Die wollen den besten Trainer, den wir jemals besaßen, wegekeln – und sich selbst wichtig machen.“ Als die Frau eine halbe Stunde vor dem Saisonfinale gegen den VfL Wolfsburg in den Massen vorm Gottlieb-Daimler-Stadion verschwand, hatte sie Tränen in den Augen.

Es lag dann auch eine seltsame Stimmung über der Mercedesstraße. Denn eigentlich waren die 50.000 Menschen vor allem deshalb gekommen, um noch einmal eine Party und das beste VfB-Jahr seit langem zu feiern. Eigentlich wollte das Publikum den „jungen Wilden“ um den scheidenden Häuptling Balakow seinen Dank abstatten, es sollte nämlich auch eine Demo sein, dass man im Schwabenland stolz ist auf den dritten Platz – und selbstbewusst genug, zu Beginn der nächsten Saison die Qualifikation für die Champions League nachzuholen.

Und dann haben sie alle gemeinsam ein Wunder erlebt. Und der Frau vorm Stadion sind – das darf man so annehmen – bestimmt den ganzen Abend lang die Tränen die Wangen hinuntergelaufen – vor lauter Glück, weil alles total anders gekommen ist. Um 17.19 Uhr war es auch Felix Magath „zum Heulen zumute“, später sprach er davon, „dass es doch einen Fußball-Gott gibt“. Dass der da oben nun alle Dinge zum Wohl von Trainer und Verein durch einen Flugkopfball des ehemaligen VfB- und jetzigen Energie-Cottbus-Profis Timo Rost ins Netz von Borussia Dortmund gerichtet hat, konnte Magath selbst am wenigsten begreifen. Rost war einst nur in Stuttgart gelandet, weil ihm sein Ausbilder Magath in Nürnberg die Perspektive für die Bundesliga abgesprochen hatte.

Doch im und ums Rote Haus gelten nun keine Vorurteile mehr. Bereits am Spielfeldrand fingen die Vorstände Manfred Haas und Dieter Hundt den Teammanager ab. Und der, was Emotionen betrifft, sonst äußerst reservierte Zeitgenosse Magath ließ sich herzen und halste selbst zurück. Jene Männer, die er in den Tagen zuvor als Pfennigfuchser, Sparmanager und nur aufs persönliche Image orientierte Wirtschaftskarrieristen hingestellt hatte, wohingegen er seinen Stellenwert ganz anders sah: „Der Trainer ist hier doch immer der Arsch.“

Die acht, zehn oder noch mehr Millionen Euro, die nun aus der europäischen Königsklasse bald abgebucht werden können, haben das zum Zerreißen gespannte Verhältnis zwischen den Zahlenmenschen und dem Fußballexperten im Klub wieder gekittet. Durch das Zauberwort Champions League sind die Chefs Hundt und Haas von jenen Ängsten befreit worden, „die sich vor den Gesprächen mit Felix Magath wie eine Schlinge um unseren Hals gelegt haben“. Aber auch Magath selbst hat zugegeben, dass er mit seiner Kritik an den Funktionären und der daraus entstandenen Diskussion um seine Zukunft bewusst gepokert habe – auch um von der im Saisonfinale plötzlich schwächelnden Mannschaft abzulenken.

Wenn sich Vorstand und Aufsichtsrat nun dieser Tage gegenübersitzen, muss Magath nicht mehr pokern. Die Herren Hundt und Haas und auch der designierte Vorstandsvorsitzende Erwin Staudt wissen, dass sie Magath entgegenkommen müssen beim Finanzierungsrahmen eines Champions-League-Teams. Wobei Magath äußerst realistisch plant. Einen Spielmacher von der Klasse Balakows zu verpflichten, bleibt absolut Utopie. „Wir sind finanziell nicht so weit, um unsere Mannschaft personell gezielt zu verstärken.“ Die Ausbaustufe der „jungen Wilden“ gerät zwangsläufig zur Fortsetzung des erfolgreichen Experimentierkurses. Er könne nur in einer Gesamtkonzeption denken, sagt Magath. Er will nun aus einer Kandidaten-Liste vier, drei, oder vielleicht nur zwei Spieler auswählen. Und er schließt dabei nicht aus, dass der VfB demnächst mit einem ganz anderen Spielsystem operieren wird.

Der Aufbruch in eine Zeit, da sich alles um den Motor Balakow drehte, hat begonnen. Deren Abschluss mit einem letzten Elfmetertor zum 2:0 über Wolfsburg steht seit Samstag zusammen mit dem Wunder aus Dortmund in den Annalen. Schlusswort Balakow: „Es gab keinen größeren Moment, um aufzuhören.“