„Denen genügt ein Handy als Zeitzünder“

Der marokkanische Politologe Mohammed Darif warnt vor gut ausgebildeten Terroristen. Der Islamismus erstarkt, wo die Politik aufgibt

66 Prozent der Marokkaner halten Selbstmordattentate auf Westeuropäer und US-Bürger für gerechtfertigt

MADRID taz ■ Professor Mohammed Darif kennt sich aus. „Es gibt in Marokko eine radikale Strömung innerhalb des politischen Islamismus, die sich am Wahhabismus – dem Islamverständnis Saudi-Arabiens – orientiert“, sagt er. „Ein Teil davon hat sich so weit radikalisiert, dass er zur Gewalt greift.“

Der Politikwissenschaftler an der Universität Mohammedia bei Casablanca sammelt seit Jahren Daten über die Islamische Marokkanische Kampfgruppe (IMK) und andere radikale Strömungen, die mit den Anschlägen vom 16. Mai 2003 in Casablanca – 45 Tote – und vom 11. März in Madrid – 191 Tote – in Verbindung gebracht werden.

„Zuerst leisteten diese Gruppen logistische Arbeit. Dann schritten sie in Casablanca zur Tat“, sagt Darif über die Gotteskrieger. „Mit einfachen Sprengsätzen schickten sie Selbstmordattentäter los. In Madrid haben sie jetzt bewiesen, dass sie technisch viel besser geworden sind. Sie brauchen keine Kamikazekrieger mehr, ihnen reicht ein Handy als Zeitzünder.“

Die IMK entstand Mitte der 90er-Jahre im pakistanischen Peschawar. Ihre Gründer waren marokkanische ehemalige Afghanistankämpfer. Lange leistete die Gruppe, die Verbindungen in die meisten europäischen Länder hat, nur logistische Dienste: Sie besorgte falsche Ausweispapiere und ermöglichte so wichtigen Al-Qaida-Mitgliedern die Reise nach Europa. Marokko, nur durch die 14 Kilometer breite Meerenge von Gibraltar von Spanien getrennt, wurde so Dreh- und Angelpunkt des internationalen Terrorismus.

In Casablanca schritt die IMK erstmals zur Tat. Sie rekrutierte – zusammen mit einer zweiten radikalislamistischen Organisation, dem Salafitischen Heiligen Krieg – in den Elendsvierteln der marokkanischen Wirtschaftsmetropole 14 Selbstmordattentäter. Am 16. Mai 2003 griffen diese dann mehrere westliche und jüdische Einrichtungen nahezu zeitgleich an.

Ob Casablanca oder Madrid, die Spur der Ermittlungen führt immer wieder nach Tanger. Die ehemals weltoffene Stadt im Norden Marokkos, die einst die Künstler der Beatgeneration anzog, entwickelte sich in den 90er-Jahren zunehmend zu einer Hochburg des Islamismus. Mindestens fünf der in Spanien verhafteten 16 Marokkaner stammen aus Tanger. Unter ihnen Dschamal Sugam, der als einer der wichtigsten Männer des – in Spanien nur noch „11-M“ genannten – 11. März gilt.

Sugam ist mit den drei Brüdern Benyaich befreundet. Einer von ihnen, Salaheddin, der als Freiwilliger im Bosnienkrieg ein Auge verlor, wurde wegen der Anschläge von Casablanca in Marokko zu 18 Jahren Haft verurteilt. Der zweite, Abdelaziz, sitzt in spanischer Auslieferungshaft. Er gilt als Kopf des Massakers von Casablanca. Der dritte, Abdallah, fiel im afghanischen Tora Bora, bei Bin Ladens letztem Rückgzugsgefecht.

Sugam hatte den gleichen religiösen Mentor wie die Benyaichs: Mohamed Fizazi. Der radikale Imam predigte nicht nur in einem der armen Viertel Tangers, sondern auch in Hamburg, wo er Kontakte zu Mohammed Atta und den anderen Mitgliedern der Bewohner der Marienstraße unterhielt, die die Anschläge des 11. Septembers 2001 in den USA vorbereiteten und durchführten. Fizazi ist mittlerweile als geistiger Vater der Anschläge von Casablanca zu 30 Jahren Haft verurteilt.

Tanger ist ein Beispiel dafür, dass Marokkos traditionelle Parteien längst den Kontakt zur armen Landbevölkerung und den Bewohnern der Elendsviertel der großen Städte verloren haben. „Dort machen heute nur noch die Islamisten Politik“, sagt Politologe Darif. „Sie haben einen einfachen, sehr populistischen Diskurs. Und der kommt an.“

In der 700.000-Einwohner-Stadt wählt fast jeder Zweite die islamistische Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (PJD). Obwohl die einzige zugelassene islamistische Formation bei den letzten Parlamentswahlen nur in 60 Prozent der marokkanischen Wahlkreisen antrat, wurde sie zur drittstärksten Kraft. Die nicht legale, aber geduldete Al Adl Wal Ihssane (Gerechtigkeit und Geistlichkeit) bestimmt mit ihrem Diskurs von der „ungerechten Verteilung der Ressourcen“ und dem Versprechen, eine „wahre islamische Gesellschaft, die mit dem dekadenten System aufräumt“, zu errichten, längst nicht mehr nur die Elendsviertel. Schleier und Bart sind nun auch an den Hochschulen zu sehen. Ein idealer Nährboden für Organisationen wie den Salafitischen Heiligen Krieg. Diese Gruppe tat sich vor den Anschlägen in Casablanca durch die körperliche „Bestrafung schlechter Gläubiger“ hervor.

Wie tief verwurzelt radikales Gedankengut heute in Marokko ist, macht eine Umfrage des amerikanischen Pew Research Center deutlich: 45 Prozent der Marokkaner stehen Bin Laden positiv gegenüber, nur 42 Prozent verurteilen ihn. 66 Prozent halten Selbstmordattentate auf Menschen aus dem Westen und US-Bürger im Irak „für gerechtfertigt“. Wenn es Juden trifft, sind es sogar 74 Prozent.

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