Ostdeutschland als neoliberales Versuchsfeld

Sachsens Ministerpräsident Milbradt sieht den Osten kippen und will den radikalen Markt als Therapie verordnen

DRESDEN taz ■ Dass der Osten auf der Kippe stünde, formuliert Sachsens Ministerpräsident Georg Milbradt nicht so explizit wie Bundestagspräsident Wolfgang Thierse vor drei Jahren. Indirekt sagt er aber nichts anderes: „Wenn wir so weitermachen wie bisher, werden wir das Ziel eines erfolgreichen Aufholprozesses nicht erreichen!“ Ostdeutschland komme bei der Bundesregierung aber praktisch nicht mehr vor.

Also hat Milbradt ein Strategiepapier entworfen, das er gestern in Berlin vor der Akademie der Konrad-Adenauer-Stiftung vorstellte. Neben dem stagnierenden Bruttoinlandsprodukt, Bevölkerungsschwund und EU-Osterweiterung sieht Milbradt Gefahren durch überproportionalen Konsum, westdeutsche Tarife und Standards. Bisherige Förderinstrumente hätten versagt und die Unterbeschäftigung nicht senken können. Dass Tarifflucht und sinkende Reallöhne im Osten nichts an der hohen Arbeitslosigkeit geändert haben, erwähnt Milbradt nicht.

Doch gehen seine Vorschläge genau in diese Richtung. Milbradts Konzept für die „Zukunft Ost“ setzt auf das klassische neoliberale Instrumentarium: mehr Verantwortung des Einzelnen, weniger Ansprüche an die Allgemeinheit, minimale soziale Sicherung, mehr Markt und Deregulierung. Für wettbewerbsfähig hält er wie Bundesostminister Manfred Stolpe (SPD) nur noch Wachstumspole wie die Nanoelektronik oder den Automobilbau in Sachsen. Investitionen in die Infrastruktur haben bei Milbradt weiterhin Vorrang, sollten aber genauer geplant werden. Alles, was Wirtschaftsförderung bringt, solle vorgezogen werden, nachrangig bleibt, was „nur das Wohlbefinden der Bevölkerung fördert“.

Der sächsische Ministerpräsident redet trotz der osteuropäischen Konkurrenz nicht einem Billiglohngebiet das Wort. Vielmehr spricht er von größerer Spreizung des Lohngefüges, das sich straff an der Produktivität orientieren solle. Der Flexibilisierung dienen die Abkehr vom Flächentarif, vom Kündigungsschutz oder von Teilzeitregelungen. „Aktivierende Sozialhilfe“ soll den Druck auf Sozialhilfeempfänger erhöhen.

All dies möchte Milbradt in eine Reform des Föderalismus einwickeln, die dem Osten mehr Experimentier- und Öffnungsklauseln erlaubt. Die reichen von Autonomie beim öffentlichen Dienstrecht bis zur Abschaffung des Hochschulrahmengesetzes. Daran, so seine Überzeugung, werde die gesamte Bundesrepublik genesen. MICHAEL BARTSCH