Feminicidio

Das „perfekte Verbrechen“ nennt der mexikanische Reporter Sergio González Rodriguez den Feminicidio, den durch Frauenhass motivierten Massenmord von Ciudad Juárez. Wie viele der 375 weiblichen Leichen, die laut amnesty international seit 1993 im Umland der Grenzstadt gefunden wurden, darunter fallen, ist umstritten. Um die hundert der Leichen weisen vergleichbare Folterspuren und Markierungen auf: Sie waren gewaltsam penetriert, Haut, Brüste und Geschlecht waren mit Messerschnitten verstümmelt, manche hatten Würgemale, kahle Stellen am Kopf und waren gefesselt.

Viele der ermordeten Mädchen sahen sich ähnlich: Sie waren unter zwanzig Jahre alt, von dunkelhäutiger Latina-Schönheit, zudem auffallend schlank, und sie trugen langes Haar. Keine hatte ein Auto, alle legten Tag für Tag weite Wege durch die Stadt zurück, zu Fuß und mit dem Bus, zu den Fabriken, Schulen oder Cantinas.

Jahrelang hatten die Behörden der Provinz Chihuahua jeden Zusammenhang zwischen den Leichenfunden geleugnet. Sie wurden als „normale“ Kriminalitätsquote bezeichnet, die spärlichen Ermittlungen konzentrierten sich auf Flirts und den „freizügigen“ Lebenswandel der Opfer. Freiwillige Ausgangssperre und Tränengas war alles, was der Staatsanwaltschaft zum Schutz einfiel.

Doch auch als die Systematik der Morde unübersehbar wurde – nicht zuletzt nach einer Stippvisite von FBI-Ermittlern im Jahr 1999 –, verhedderten sich die örtlichen Ermittler immer weiter in einem Gestrüpp aus lückenhafter Spurensicherung und hanebüchenen Hypothesen, erpressten Geständnissen und fragwürdigen Festnahmen. „Im Gefängnis sitzt derzeit keiner, der mit den Morden direkt zu tun hat“, glaubt die US-Reporterin Diana Washington.

Hintergrund für ihre These von den Juniors ist die Brutalisierung des Drogenhandels seit der Machtübernahme durch den Clan um Amado Carrillo Fuentes 1993. Nach der teilweisen Entmachtung der kolumbianischen Kartelle übernahm das Juárez-Kartell den Vertrieb der südamerikanischen Ware. So wurde die Stadt in den Neunzigern zur zentralen Drehscheibe für den Kokain- und Heroinhandel gen USA.

Damit änderten sich die Spielregeln. Aus Kilos wurden Tonnen, erstmals wurde auch Juárez selbst – einst reine Durchgangsstation – von Drogen überschwemmt. Und waren früher Frauen und Kinder von den mörderischen Machtkämpfen der Banden weitgehend verschont, so sind heute Folterungen und demonstrative Hinrichtungen ganzer Familien an der Tagesordnung.

Bis Mitte 2004 will die Kommission der neuen Sonderbeauftragten Guadalupe Morfin einen ersten Bericht vorlegen. Größere Hoffnungen werden allerdings in ihre Kollegin Maria López Urbina gesetzt, die Ende Januar von der Bundesstaatsanwaltschaft PGR zur Sonderermittlerin für die Juárez-Morde ernannt wurde.

Im Unterschied zu Morfin wäre sie mit allen juristischen Befugnissen, wie etwa dem Recht auf Akteneinsicht, ausgestattet. Bislang ermittelt die PGR nur in wenigen Fällen. Damit die Sonderstaatsanwältin gegen den zu erwartenden Widerstand der Landesbehörden die gesamte Mordserie neu aufrollen kann, braucht sie die Rückendeckung der Zentralregierung. Dazu müsste, wie der Kriminologe Oscar Maynez sagt, Präsident Fox den Feminicidio endlich zur Frage der „nationalen Sicherheit“ erklären.

Die Zeit drängt. Denn das Morden geht weiter. Allein 2003 wurden neun Frauenleichen um Juárez geborgen. Und der Massenmord greift mittlerweile auch auf andere Städte des Nordens über, wo Dutzende von Leichen gefunden und junge Frauen vermisst gemeldet wurden. Mitte Januar dieses Jahres fand man auf einem Feld eine weitere tote Frau, die vergewaltigt und offenbar zu Tode geprügelt wurde. Der bislang letzte Frauenkörper wurde am 10. März 2004 geborgen. AH