„Selektive Beweisführung“

11. September-Prozesse: Chancen auf Freilassung von Motassadeq gestiegen. Bundesanwälte gaben erst gestern monatelang unterdrücktes Beweismaterial frei

Der „Skandal“ ist für die Verteidiger Gerhard Strate und Josef Gräßler-Münscher perfekt. Im Verlauf des gestrigen Haftprüfungstermins des als „Terrorhelfer“ des 11. September zu 15 Jahren Haft verurteilten Marokkaners Mounir el Motassadeq gab Bundesanwalt Walter Hemberger überraschend entlastende Beweismittel preis, die der Bundesanwaltschaft (BAW) zum Teil seit April 2002 vorliegen. Das Hansesatische Oberlandesgerichts (OLG) will nun Anfang der Woche über eine Haftentlassung entscheiden.

Bei den Beweismitteln handelt es sich um die Kopie eines auf grauem Umweltschutzpapier geschriebenen Briefes des nach den Attentaten aus Hamburg untergetauchten und per internationalen Haftbefehl gesuchten Said Bajhaji, der am 26. April 2002 bei seinem Vater in Marokko eingegangen war – vor dem Prozess gegen Motassadeq. Darin schildert Bahaji, dass alles bei seinen Freunden „sehr plötzlich“ gegangen sei und er in die „konkreten Anschlagplanungen“ um die Gruppe der Todespiloten von Mohamed Atta nicht eingeweiht gewesen sei, ebenso wenig wie „mein Freund Mounir“. Des Weiteren präsentierte die BAW eine Abschrift eines abgehörten Telefonats von Bahaji mit der in Deutschland lebenden Ehefrau vom Frühjahr 2003, in dem er diese Version wiederholte. Strate: „Bei dem Telefonat konnten die Beteiligten nicht davon ausgehen, dass es abgehört wird.“

Die BAW begründet die Unterschlagung des Briefes damit, dass sie ihn für nicht glaubhaft und beweiserheblich gehalten habe und die „internationale Zielfahndung“ nach Bahaji nicht gefährdet werden sollte.

Für die Verteidiger hat sich nun genau das bewahrheitet, was der Bundesgerichtshof in der Revsionsverhandlungen bereits bemängelt und vor allem den US-Behörden unterstellt hatte – das „selektive“ Einführen von Beweismitteln, um das Verfahren von außen zu steuern.

Schon zu Beginn des gestrigen Haftprüfungstermins hatte der OLG-Senat unter dem Vorsitz von Richter Ernst-Rainer Schudt zu bedenken gegeben, ob das Verfahren in einem gewissen Stadium nicht ohnehin eingestellt werden müsse. Das OLG habe erhebliche Zweifel, ob wegen der Sperrung von Beweismitteln durch die US- und Bundesbehörden noch ein „faires Verfahren“ möglich sei. „Der 4. Strafsenat wird nun eingehend beraten, insbesondere ob der Angeklagte weiterhin dringend verdächtig ist“, sagte Gerichtssprecherin Sabine Westphalen nach der Haftprüfung. KAI VON APPEN

Weiterer Bericht Seite 2