Vorbildlich fernab von Elitedenken

Waldorfschulen praktizieren bereits vieles von dem, was im Zuge der Bildungsdebatte gefordert wird: Integration und Individualität finden hier zueinander. Die ersten Schritte der Schulreform gehen aus Waldorfperspektive in die falsche Richtung

VON LARS KLAASSEN

Die Bestandsaufnahme liegt nun schon eine Weile auf dem Tisch: Kinder bildungsferner Eltern werden in Deutschlands Schulen benachteiligt. Mangels Förderung landen sie auf dem Abstellgleis. Wer aus intellektuell besserem Hause kommt, dem stehen zwar meist alle Türen offen. Aber selbst hinter diesen Türen wird gerade mal Durchschnitt geboten. Pisa & Co. mahnen: Unsere Schulen müssen besser werden! Aber wie? Ein bisschen mehr Gerechtigkeit soll es auf der einen Seite sein, also bessere Starthilfe für Benachteiligte. Auf der anderen Seite wird mehr individueller Spielraum gefordert, damit sich auch Begabte entfalten können. Elitendebatte! Der Widerspruch scheint perfekt. Aber während an den Theorien munter weitergebastelt wird, lohnt sich ein Blick in die Realität, genauer: in Waldorfschulen. Dort praktiziert man bereits vieles, was ansonsten lediglich am Reißbrett diskutiert wird. Im Schatten der Bildungsdebatte finden Waldorfschulen dennoch wenig Beachtung.

Rudolf Steiners pädagogisches Konzept war schon im Jahr 1919 die Antwort auf eine Krise. In der rein abstrakten Bildung sah er eine der Ursachen für die Eskalation des Ersten Weltkriegs. Sein Schluss: Eine ganzheitliche Bildung ist nötig, um soziale Verantwortung stärker auszuprägen. Dabei machten die Waldorfschulen schon einiges vor, was nach und nach auch an den staatlichen Schulen Einzug hielt: Seit ihrem Bestehen gab es an Waldorfschulen Koedukation, Prügelstrafen waren verboten. So etwas war in den Zwanzigerjahren Avantgarde und wurde erst in den Fünfzigern auch andernorts zur Regel. Was heute zum Teil für staatliche Schulen gefordert wird, ist ebenfalls bereits Usus bei Waldorfs: Noten und Sitzenbleiben gibt es nicht. Schon ab der ersten Klasse werden zwei Fremdsprachen unterrichtet. Vor allem bildungsbewusste Eltern schätzen Waldorfschulen; der Nachwuchs soll schließlich die bestmögliche Bildung genießen.

Doch wenn er den Begriff „Elite“ hört, ist Hans-Georg Hutzel skeptisch: „Wir betreiben hier keine intellektuelle Auslese“, betont der Geschäftsführer der Freien Waldorfschule Kreuzberg. Ziel sei es, alle Fähigkeiten der Schüler zu fördern. Selektion nach intellektueller Leistung gibt es nicht. Im Gegenteil: Von der 1. bis zur 12. Klasse werden die Schüler im gleichen Klassenverband unterrichtet, egal ob sie letztlich einen Hauptschulabschluss, die mittlere Reife oder Abitur machen. „Gerade das Miteinander unterschiedlich Begabter kommt jedem Einzelnen zugute.“ Auch soziale Mischung ist gewollt. In diesem Sommer wird die zweite Integrationsklasse des zweiten Klassenzugs ins Leben gerufen: 2 Lehrer betreuen darin 25 Schüler, davon 5 mit besonderem Förderbedarf. Ziel ist es, in allen 12 Jahrgängen eine zweite Klasse als Integrationsklasse zu unterhalten. Waldorfschulen verbinden integratives Lernen mit individueller Förderung. „Dabei haben sie in der Praxis einen großen Traditionsschatz angesammelt“, sagt Hutzel.

Das hindert die Freien Waldorfschulen nicht daran, in Sachen Bildungsreform fleißig mitzumischen: In Hessen beispielsweise will die Landesarbeitsgemeinschaft ihre Aktivitäten zur Qualitätsentwicklung verstärken. Da Projekte des Kultusministeriums für Schulen in freier Trägerschaft nur zum Teil zugänglich seien oder die besonderen pädagogischen Bedingungen nicht berücksichtigten, wollen die Freien Waldorfschulen verstärkt eigene Verfahren der Qualitätssicherung entwickeln und anwenden. Dabei haben bereits mehrere Lehrerkollegien mit externen Schulentwicklungsberatern zusammengearbeitet. In einer zweiten Phase setzen nun Mitarbeiter der Verwaltung mit eigenen Evaluationsteams diesen Prozess fort.

Aber mit Reformen ist das so eine Sache. Detlef Hardorp, bildungspolitischer Sprecher der Waldorfschulen in Berlin und Brandenburg, warnt vor übereiltem Aktivismus: „Die Schlüsse nach dem Pisa-Schock sind fast alle grundverkehrt.“ Leistung solle es richten, Paukerei sei gefragt, frühe Einschulung und zentrale Prüfungen seien angesagt. „All das findet man beim Pisa-Favoriten Finnland nicht.“ Trotzdem steht in Brandenburg und Berlin das Zentralabitur auf der Agenda. Das Problem: Unterschiedliche Zeiteinteilungen bei den Lehrplänen ließ die Teilnahme der Waldorfschulen in Brandenburg scheitern. Hardorp: „Wir haben einen gleichwertigen Bildungsgang, aber keinen gleichartigen.“ In Berlin sollen zwar nur Deutsch, Mathe und die erste Fremdsprache – meist Englisch – zentral geprüft werden, nicht gleich zehn Fächer wie in Brandenburg. Doch voraussichtlich werden sich Waldorfschulen auch an diesem Vorhaben nicht beteiligen. Denn: Der starre Zentralismus enge ein, statt zu beflügeln. „Von Vorteil ist bei der Bildungsdebatte bislang vor allem, dass Bewegung in die Bildungslandschaft gekommen ist“, resümiert Hardorp. „Immerhin sind sich alle einig, dass etwas verändert werden muss.“