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Die Summe aller Erfahrungen

Das Restgrün vorm Supermarkt oder die Elbbesichtigung per Opel: Die Tristesse des norddeutschen Milieus zog Dirk Reinartz in dem Maß an, wie sie im Sucher seiner Kamera zum deutschen Thema wurde. Ein Nachruf auf den Fotografen und Lehrer

VON ULF ERDMANN ZIEGLER

Als ich ihn vor fünfundzwanzig Jahren in Heidelberg zum ersten Mal sah, war Dirk Reinartz ein hochgewachsener Mann mit Bauch, mit Nikons, mit einer Brille, die seine Augen groß machte, staunend, wie die eines Kindes. Kaum hatten wir ein paar Worte gewechselt, lud er mich zum Essen ein, und als wir uns verabschiedeten, öffnete er den Kofferraum seines alten 5er-BMWs und schenkte mir einen Kodachrome-Vorrat, der zwei Jahre reichen sollte.

Das, was seine Kommilitonen für den Glücksfall einer Traumkarriere hielten, hatte Reinartz mit Anfang dreißig schon hinter sich. Mit dreiundzwanzig Jahren in die Redaktion des Sterns berufen, war er in der Welt herumgereist und schließlich zu dem Ergebnis gekommen, dass die Gurte des Jet-Sets zu eng gespannt waren. So schloss er sich einer genossenschaftlichen Agentur namens Visum an, ein illustres Quartett ehemaliger Folkwang-Schüler, die gegenseitig ihr Bildmaterial sichteten – ein unerbittliches Tribunal mit allen Phrasen der Essener Fotoschule –, bevor bei Geo oder bei der Lufthansa geliefert wurde. Die Hamburger Gruppe wurde zum Vorbild sämtlicher Fotografenagenturen. Sie zerbrach an der Frage, ob Koks zu den Arbeitsmitteln des Bildjournalisten gehört.

Ein früher Crumb-Cartoon sichtete Meatballs, die an den Köpfen frei laufender Passanten zerschellen und sie unwiderruflich in glückliche Wesen verwandeln. Dirk Reinartz war zweifellos getroffen worden. 1947 in Aachen geboren, hatte er das Rheinland nach Norddeutschland mitgenommen. Er leuchtete aus sich heraus, ohne Mission. Sein Seehundschnurrbart, ein Vorrat an Locken, die helle Stimme; handgenähte amerikanische Schuhe, wollene Anzugstoffe, hedonistische Leibesfülle: Das Gegenbild zum Milieu der Ehrgeizlinge und Strippenzieher.

Noch unterwegs für den Stern im Wahljahr 1976, fotografierte er eine vergessene Braut, in einer Abseite auf einer Getränkekiste sitzend. Die ungeheure Tristesse des norddeutschen Milieus zog ihn in dem Maß an, wie sie im Sucher seiner Kamera zum deutschen Thema wurde. Während er in Süddeutschland den technokratischen Prunk beäugte, registrierte er in Norddeutschland die verquere Deutung des urbanen und ländlichen Raumes: Restgrün vor Supermarkt; Elbbesichtigung per Opel Kadett. „Kein schöner Land“ hieß sein erstes Buch im Steidl-Verlag, ergänzt durch kulturkritische Studien von Norbert Klugmann und Christian Graf von Krockow. Reinartz sprach mit den elaborierten Mitteln einer polemisch geschärften dokumentarischen Fotografie zum größeren Publikum. Das Buch erschien ein paar Wochen vor dem Fall der Mauer, eine westdeutsche Elegie.

Im Kontakt mit dem Zeit-Magazin wurde Reinartz zum Deutschlandexperten, und so reiste er schließlich nach Theresienstadt. Nun begann seine Auseinandersetzung mit den Lagern, in die er seine Mutter einbezog. Er wollte nicht den Bruch mit der Elterngeneration, sondern die gemeinsame Anerkennung deutscher Schuld. Tiefgraue Bilder von oft ungewisser Bildtiefe fanden sich in „totenstill“ (1994), das in den USA unter dem Titel „deathly still“ ein Mainstreambuch werden sollte.

Was Dirk Reinartz die Abwendung vom Journalismus ermöglicht hat, waren kurioserweise die Künstlerporträts, die er als Bildjournalist, vor allem für art, fotografierte. Er sah sich genau um in den Ateliers und schulte sich darin, auch entlegenste künstlerische Anliegen zu begreifen. Dabei kam er zu dem Schluss, dass er selbst kein Künstler sei, und auch Einzelausstellungen in der Neuen Nationalgalerie und im Martin-Gropius-Bau in Berlin haben das nicht ändern können. Je verwirrter die Fotografenszene sich zeigte vom theatralischen Erfolg der Becherschüler, desto mehr wuchs die Statur des Mannes, der zusammen mit seiner Frau Karin in einem Eckhaus in Buxtehude unter einem spitzen Giebel eine postmoderne Familie zusammenhielt. Reinartz war nicht scheu, aber er verplemperte auch nicht seine Zeit.

Die letzten Jahre galten zwei großen Projekten. Das eine war, die fotografische Farbe seinem Deutschlandprojekt dienlich zu machen. Er wollte die Farben schmutzig sehen, aber eingetragen in eine makellose grafische Ordnung. Sein jüngstes Buch, die „Inneren Angelegenheiten“, ist eine haarsträubende Reise durch deutsche Betonlandschaften – ein Grund zum Auswandern.

Das andere Projekt war seine Lehre an der Muthesius-Hochschule in Kiel. Seit 1997 bildete er Studenten in Fotografie aus, und sehr bald sah man das Ergebnis: schwierige Aufgaben, klare Bilder. Die Studenten fotografierten nicht wie Reinartz, sondern schauten sich seine Methoden ab; den langen Atem, die Dichte an Information, die ironische Disposition. Das Unerbittliche seiner Anschauung war, in einer persönlich geprägten Paradoxie, das Gegenteil eines Vorurteils.

Es sah in den letzten Jahren so aus, als würde sein Einfluss wachsen. Dirk Reinartz, gänzlich singulär, verkörperte die Summe aller Erfahrungen. Er war der gelassenste No-Nonsense-Typ, den man sich vorstellen kann. In seiner Gegenwart war man geborgen, in einer Mischung aus väterlichen und brüderlichen Qualitäten, und er hörte zu. Nie klingelte das Handy, das er bei sich trug, weil nur Karin Reinartz die Nummer kannte.

Sie lag neben ihm auf einem Hotelbett in Berlin-Friedrichshain am Abend des 26. März, als er die Dinge Revue passieren ließ, nicht nur glücklich jetzt, sondern auch zufrieden, und mitten im Satz sich abwandte und starb: Meatball des Herzens. Wie gut, dass wir ihn hatten.

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