Am Rand des grauen Ganzen

„Der muss weg. Eine Ordnung muss wieder her“: Im Arsenal läuft das Filmprogramm „Standard: Abweichung“. Was ist normal, und wie hoch ist der Preis, wenn man nicht dazuzugehört?

von MADELEINE BERNSTORFF

Neulich im ICE. Ein munterer, durchaus gender-sensibilisierter Mathematikstudent erzählte, wie wenig Frauen es immer noch in seinem Studiengang gebe. Dann kam der staubige Witz, dass die meisten dieser Studentinnen eher wie Männer aussähen. Und die wenigen, die „weiblicher“ wirkten, dürften ihre Kommilitonen nicht einmal anlächeln, weil sie sonst sofort angebaggert würden.

Gut also, dass es seit 1977 den Kongress von Frauen in Naturwissenschaft und Technik gibt. Diesmal thematisiert er Normierungsmechanismen und fragt nach Standards und Abweichungen. Zur Aufschüttelung der Problematik ist ein Filmprogramm im Arsenal zu sehen. „The Brandon Teena Story“ (USA 1998), ein Dokumentarfilm über den weiblichen Teenager Brandon, der als Mann lebte und mit seinen Erfolgen bei den nicht gerade verwöhnten Mädchen der Gegend den Neid der Redneck-Jungs in Nebraska emporschießen ließ, zeigt die terroristischen Aspekte angenommener Normalität. So wurde Brandon Teena entblößt, gedemütigt und vergewaltigt und, nachdem sie/er dann in einer weiteren entwürdigenden Prozedur bei der örtlichen Polizei ausgesagt hatte, umgebracht, hingerichtet. Die Geschichte von Brandon Teena hat weite Kreise gezogen, es gibt eine mittelgare Hollywoodfiktionalisierung dazu, außerdem einen kaum lesbaren Dokuroman von Aphrodite Jones, und die Medienaktivistin Shu Lea Chang hat fürs Guggenheim Museum ein interaktives Website-Puzzle gebaut über dieses schauerliche hatecrime im mittleren Westen, einer Gegend der Crash-Car-Rennen, der hohen Arbeitslosigkeit, der All-White-Male-Hetero-Dominanz und der häuslichen Gewalt. Teena Brandon, deren Großvater ein Sioux-Indianer war, wuchs bei ihrer allein erziehenden Mutter auf und war schon sehr früh abgeneigt, in Röcken und Kleidern herumzulaufen. Als sie sich entschied, als Mann zu leben, wurde er zum Traum aller Mädchen. Denn er wusste, was Höflichkeit, Zärtlichkeit und glamouröse Geschenke waren. Der Dokumentarfilm von Susan Muska und Greta Olafsdóttir versucht die Strukturen anzugehen, die zu dem Drama geführt haben, und bleibt mit seinen atmosphärischen Super-8-Aufnahmen der Gegend, mit Countrysongs, die den Gefühlsabspaltungen einen sicheren Just-a-little-happiness-Raum geben, und seinen vielen Interviews doch eher bei den Symptomen.

Der frühe, nahezu überbelichtete „Katzelmacher“ (BRD 1969) von Rainer Werner Fassbinder stellt ebenfalls die elende Bedrohung dar, die von einer sich als Mitte alles Richtigen begreifenden Gruppe ausgeht. Männer in Anzügen und mit Koteletten treffen auf Frauen in geblümten Minikleidern, mit schweren angeklebten Wimpern. Sie hängen herum, reden und giften sich an, schlafen mit und ohne Bezahlung miteinander. Als dann der Grieche Jorgos (R. W. Fassbinder) auftaucht, findet die Gruppe zusammen, mittendrin im grauen Ganzen: „Ein Ausländer“. „Fremdarbeiter“ nennen sie ihn, als ob die Nazizeit nicht schon 25 Jahre her wäre. Alle rassistischen, antikommunistischen und sexualneiderischen Projektionen, die nur möglich sind, bündeln sich nun. „Der muss weg. Eine Ordnung muss wieder her.“ – „Da g'hörn wir her und sonst nix.“. Außer der verliebten Marie (Hanna Schygulla) will nur die zugewinnorientierte Elisabeth (Irm Hermann), dass Jorgos bleibt, weil man mehr Miete von ihm verlangen kann. „So muss man’s machen mit denen, weil es wird mehr produziert, wenn die da sind und ’s Geld bleibt im Land.“

Jane Campions erstem Spielfilm „Sweetie“ (Australien 1989) gelingt es auf erstaunliche Weise, den schmalen Grat zwischen vermeintlich Normalem und dem davon Abgespaltenen zu verschieben. Die Protagonistin Kay bewegt sich an den Rändern einer dysfunktionalen Familie, ihre monströse Schwester Sweetie reizt die brüchigen Familienarrangements weiter aus. Die Kamerafrau Sally Bongers findet dafür Kadrierungen, welche die Darstellung von Isolation und Groteske miteinander verbinden.

Elfie Mikeschs Dokumentarfilm „Verrückt bleiben verliebt bleiben“ (D 1997) schließlich porträtiert Torsten Ricardo Engelholz, Maler und Schauspieler am Theater Tikhwa. „Meine Kindheit war eine wahre Hölle. Ich kannte nur Dunkelheit. Ich musste begreifen lernen erst später.“ Er hat viel Zeit in der Psychiatrie verbracht. Elfie Mikeschs Film findet zu seiner Perspektive.

„Wenn es auch anstrengend ist, als Abweichlerin das Leben zu gestalten, so hat es den großen Vorteil, dass es so möglich ist, den Blick von außen auf das Ganze zu werfen, die Spielregeln zu durchschauen und damit umzugehen“, sagen die Damen vom Kongress Standard: Abweichung.

„Standard: Abweichung“ bis 1. Juni im Arsenal-Kino, Termine siehe tazfilm