Reformen sind machbar

TAZ-SERIE „AGENDA 2010“, Teil 5: Es ist möglich, den im Vergleich konservativen deutschen Sozialstaat zu liberalisieren und trotzdem das Ziel der Gleichheit zu verfolgen

Warum sollen nur Studenten als Bürger mit Erwartungenauf die Zukunftbehandelt werden?

Dass der Sozialstaat weitreichender Reformen bedarf, ist inzwischen Konsens – nur das Wie ist noch umstritten. Dabei liegt es auf der Hand, was jetzt notwendig ist – mit politischem Willen und kluger Integration der Opposition könnten folgende Reformen schon 2005 in Kraft treten:

Der wichtigste Schritt wäre die Weiterentwicklung der Gesetzlichen Rentenversicherung zu einer Bürgerrentenversicherung mit Grundrente – etwa nach dem Vorbild der niederländischen Volkspension oder der Alters- und Hinterlassenenversicherung der Schweiz. Denkbar wäre auch eine steuerfinanzierte Grundrente, wie sie seit bald 20 Jahren aus CDU-Kreisen oder in den 80er-Jahren von den Grünen gefordert wurde. Allerdings sind die Übergangsprobleme bei einer steuerfinanzierten Grundrente nur langfristig zu lösen. Demgegenüber könnte eine Bürgerversicherung nach Schweizer Modell – dort beträgt der Beitragssatz derzeit etwa 9,8 Prozent auf sämtliche Einkommen – geschmeidiger eingeführt werden. Dazu müssten die Selbständigen und Beamten einbezogen und die Beitragsbemessung auf alle Einkommensarten ausgeweitet werden. Bislang kostenlos mitversicherte Ehepartner müssten ebenfalls Beiträge zahlen. Zudem ist die seit Anfang 2003 geltende Grundsicherung durch eine pauschalierte Grundrente zu ersetzen. Das Prinzip der paritätischen Finanzierung durch Arbeitgeber und Arbeitnehmer wäre hinfällig. Überflüssig würde durch die eigenständige Versicherung aller Bürger mittelfristig auch die Hinterbliebenenrente.

Ein zweiter Schritt wäre die Weiterentwicklung der Kranken- und Pflegeversicherung zu einer Bürgerkranken- und Pflegeversicherung. Der Gefahr, dass die neue Bürgerkrankenversicherung nur noch eine Grundversorgung beinhaltet, dürfte zu begegnen sein, indem die gesamte Bevölkerung einbezogen wird und damit genügend Interessen wirksam werden. Wesentlich ist auch hier die Einbeziehung der Beamten und Selbständigen. Sinnvoll wäre, auch privaten Anbietern die Durchführung der Bürgerkranken- und Pflegeversicherung zu ermöglichen.

Ein dritter Schritt wäre die Weiterentwicklung des Familienlastenausgleichs zu einer neuen Kombination aus Kindergeld und Erziehungsgehalt. Während das Kindergeld sozialpolitisch kaum strittig scheint und seine Ausweitung zu der von den Grünen geforderten „Kindergrundsicherung“ viele Armutsprobleme lösen könnte, scheiden sich an der Frage, ob die Erziehungsleistung von Eltern durch Transfers anerkannt werden soll, die Geister. Die Union forderte im Bundestagswahlkampf 2002 die Einführung eines „Familiengeldes“ – als Kombination von Kinder- und Elterngeld –, während Rot-Grün Transfers an Erziehende als Negativanreiz zur Erwerbsarbeit vor allem für Mütter ablehnte. Für eine materielle Anerkennung der Erziehungsarbeit spricht vor allem die Verfügung der Eltern über die Form der Sorge für ihre Kinder in den ersten drei Lebensjahren. Hier wäre eine schwarz-grüne Achse denkbar.

Der vierte Schritt wäre die Umwandlung von Sozialhilfe und (bisheriger) Arbeitslosenhilfe in eine Grundsicherung mit 50-prozentigem Darlehensanteil für alle Erwerbsfähigen – unter Zugrundelegung eines erweiterten Arbeitsbegriffs: Erziehungsarbeit, Pflege und Ehrenämter, also Formen der gesellschaftlichen Arbeit, würden – ebenso wie Erwerbsunfähige – vom Darlehensanteil ausgenommen. Dieser Vorschlag orientiert sich an den gegenwärtigen Regelungen des Bafög, wonach die Hälfte des Auszahlungsbetrags als Staatsdarlehen gewährt wird, das bei Überschreiten eines gewissen Einkommens wieder zurückzuzahlen ist. Während das Bafög seit der letzten rot-grünen Reform für die Regelförderzeit ein unverzinsliches Darlehen vorsieht, zudem nur bis maximal 10.000 Euro rückzahlbar, wäre der Darlehensanteil einer Grundsicherung eher niedrig verzinslich zu gestalten, ähnlich dem Bankdarlehen des Bafög.

Am Einstieg in die Grundsicherung wurde in den letzten Jahren von allen Parteien gestrickt: die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe ist, neben der Aufweichung des Kündigungsschutzes und der Privatisierung des Krankengeldes, der wohl kontroverseste Punkt der Agenda 2010. Konsens besteht darin, dass die Bezieher der Grundsicherung in die Gesetzliche Kranken- und Pflegeversicherung kommen und auch rentenversichert werden. Liberale Ökonomen möchten wegen des Arbeitsanreizes die neue Grundsicherung auf Sozialhilfeniveau drücken, andere glauben angesichts von faktisch sechs bis sieben Millionen Arbeitslosen nicht an daraus folgende Arbeitsanreizeffekte. Die Ausgabendifferenz zwischen Sparmodell und aufwandsneutralem Modell berechnet die Kommission zur Reform der Gemeindefinanzen auf 5,2 Milliarden Euro im Jahr. Die moralische Differenz wäre dramatisch.

Eine zukunftsweisende Kombination beider Intentionen – der Absicherung des soziokulturellen Existenzminimums und damit der Armutsprävention mit der unbürokratischen liberalen Förderung von Arbeitsangeboten auch im Niedriglohnsektor – könnte in Deutschland dadurch erreicht werden, dass jedem Bürger unbürokratisch das gegenüber heute erhöhte und damit würdige Existenzminimum garantiert wird. Allerdings in dem Bewusstsein, dass Erwerbsfähige die Hälfte des Transferbetrages später wieder zurückzahlen müssen. Damit würden Grundsicherungstransfers zur Reduzierung der Staatsverschuldung beitragen. Man könnte einwenden, dass die Bezieher niedriger Einkommen damit in eine Schuldenspirale gestürzt werden und irgendwann kein Anreiz mehr besteht, Geld zu verdienen. Dagegen sprechen jedoch die Befunde der „dynamischen Armutsforschung“, wonach ein Großteil der gegenwärtigen Sozialhilfebezieher diese Leistungen eher befristet in Anspruch nimmt und in auskömmlichere Einkommensgruppen aufsteigt. Warum sollte dies in Zukunft anders sein? Dafür spricht auch das Prinzip von Gleichheit und Respekt: Warum sollen nur Studenten als Bürger mit Zukunftserwartungen behandelt werden? Eine hälftig als Darlehen gezahlte Grundsicherung erlaubt eine liberale Gewährungspraxis, wie sie in der Forderung nach einem „garantierten Grundeinkommen“ enthalten ist, aber unter den gegenwärtigen politisch-kulturellen Bedingungen schwer umsetzbar erscheint. Im Übrigen sind auch in einem solchen System Schuldenbegrenzungen und sozialpolitisch gestaltete Schuldenerlasse denkbar.

Für die Kombination von Kindergeld und Erziehungsgehalt ist eine schwarz-grüne Achse denkbar

Der Vorschlag einer „Agenda 2005“ mag anspruchsvoll erscheinen. Er würde den – im internationalen Vergleich konservativen – deutschen Sozialstaat liberaler gestalten und doch das Ziel der Gleichheit durch angemessene Umverteilung verfolgen. Die vorgeschlagenen Reformen des Transfersystems würden zudem die Arbeitslosigkeit massiv reduzieren und vermutlich zu Vollbeschäftigung führen – allerdings zu einer Vollbeschäftigung auf reduziertem Niveau, mit mehr Teilzeitarbeit und einem breiteren Spektrum gesellschaftlicher Arbeit.

MICHAEL OPIELKA