Das Traurige künstlich machen

Es kann nur herauskommen, was hineingesteckt wird: Das Babylon zeigt Filme des Berliner Filmemachers Stefan Hayn, dem es um Schnittstellen zwischen Privatem und Gesellschaftlichem geht – darum, den Erfahrungen das Individuelle zu nehmen

von MANFRED HERMES

Vor zehn Jahren war Stefan Hayns „Fontvella’s Box“ ein Darling schwullesbischer Filmfestivals. Dem surrealistisch gleitenden „Kostümfilm“ über die Krise eines imaginären Bühnenstars ließ Hayn, 1965 in Rothenburg ob der Tauber geboren, dann aber Arbeiten folgen, die es in diesem Segment wesentlich schwerer hatten. Inzwischen hatte er sein Studium bei Rebecca Horn an der HdK beendet und war in die Dokumentarabteilung der Filmakademie Baden-Württemberg gewechselt. Von nun an fasste er die Begriffe Privatheit und Öffentlichkeit deutlicher politisch.

Das konnte als Verbeugung vor Jean-Marie Straub („Dreizehn Regeln oder die Schwierigkeit sich auszudrücken“) geschehen oder, wie in „Ein Film über den Arbeiter“ (1997), in der Form einer stilisierten Selbstauskunft über die konkreten Zwangs- und Tauschverhältnisse, in denen Hayn als sexuelles Wesen, als Aushilfe in einem Medikamentengroßhandel oder als Filmstudent stand. Ende der Neunziger eröffneten Stefan Hayn die Berliner Schülerstreiks die Beschäftigung mit der Schule als Institution. Deren strukturelle Defizite und Stumpfheiten hat jeder von uns am eigenen Leib erfahren und auch in „Gespräche mit Schülern und Lehrern (an drei Berliner Schulen)“ (2002) lassen sich genügend Einwände gegen Schule in ihrer aktuellen Form finden. Als Schulenhasser geht man aus diesem Interviewkontinuum mit Schülern und Lehrern dennoch nicht hervor. Stefan Hayn und Anja-Christin Remmert sehen hier vor allem den öffentlichen Ort, an dem unterschiedliche Menschen über längere Zeiträume in eine Kommunikation eintreten.

Da gerade der Kulturbetrieb nicht unbedingt immun gegen die neoliberalen Störgeräusche ist, die jetzt das Nachdenken über das Soziale vernebeln, ist es umso wichtiger, gerade an dieser Stelle als Materialist zu argumentieren: Es kann nur das herauskommen, was auch hineingesteckt wird. In „Schuldnerberichte“ (2002) hat Hayn ein weitere, höchst signifikante Schnittstelle zwischen dem Privaten und dem Gesellschaftlichen untersucht. Hayn ging hier Berliner Verschuldungsgeschichten nach und vervollständigte sie durch die Beschreibung ihrer Verwaltungsstellen: Kreditgewerbe, Gerichtbarkeit, Wirtschaftswissenschaft und Krisenberatung.

Ausweglose Situationen werden klug relativiert

Schulden sind nicht nur das Resultat falscher persönlicher Kalkulationen, sie sind auch die Fußfesseln, die den Einzelnen mit dem Wirtschaftssystem verketten. Wenn die Bedingungen des Arbeitsmarkts verschlechtert werden, dann liegt die gesellschaftliche Dimension der Schuldenfrage auf der Hand. Die dem Thema innewohnende Tristesse wird von Hayn dabei mehrfach entauthentifiziert. Die per Interview eingeholten Krisenberichte wurden bearbeitet und dann auf Laiendarsteller verteilt, die sie nicht selten im öffentlichen Raum vortragen. Manchmal sind sie wie in bestimmten Talkshows durch Perücken, falsche Bärte und Brillen unkenntlich gemacht. Diese Kostümebene funktioniert auch als spielerische Durch-Queerung und es entstehen Spielräume visueller Freiheit, die Hayn, empfänglich für Gemustertes und Geblümtes, immer wieder zulässt.

In „Am Israel chai – Das Volk Israel lebt. Bericht von Dr. Ursula Bohn“ (1995) zeigt er, wie sinnvoll es sein kann, auch als Filmkünstler alle möglichen Jobs gemacht zu haben. Als Altenpfleger kann man etwa „Menschen mit Geschichte“ kennen lernen und mit ihnen reden. So entstand auch dieses Zeitzeugeninterview mit der damals 88-jährigen Germanistin und Mitbegründerin des „Instituts Kirche und Judentum“. Sie erzählt darin aus einem Leben, das durch die Jugendfreundschaft mit der jüdischen Ärztin Luzie Adelsberger jeweils sehr bezeichnend mit den politischen Bedingungen in Deutschland zusammenstieß. So niederschmetternd individuelle Erfahrungen im Einzelfall auch sein können, so klug werden sie bei Hayn relativiert.

Selbst einer ausweglosen Situation wird damit das Zwangsläufige abgesprochen. Kaum hat in „Schuldnerberichte“ jemand seine Panik angesichts ungesicherter Lebensverhältnisse zugegeben, folgt auch schon sein schöner Appell: „Auch wenn die Zeiten schlecht sind, kann man gut mit den Dingen umgehen. Und vor allem: mit den Menschen. Man kann zwischenmenschlich Kontakte knüpfen, obwohl die Situation sich nicht verändert. Und obwohl sie sich verändert.“ Der Vorleser dieser Zeilen blickt auf und sieht Stefan Hayn, der ihm gegenübersitzt, ins Gesicht. In diesem kleinen Akt der Solidarisierung wird ein Fenster aufgestoßen: dass es das gibt, ein richtigeres Leben schon im falschen.

„Gespräche mit Schülern und Lehrern (an drei Berliner Schulen)“ und „Am Israel chai – Das Volk Israel lebt. Bericht von Dr. Ursula Bohn“ heute und morgen jeweils 20 Uhr, Filmkunsthaus Babylon, Rosa-Luxemburg-Str. 30, Mitte