Enorme Doppelbelastung

Nach einer Untersuchung der Universität Jena üben viele Abgeordnete zusätzlich einen bürgerlichen Beruf aus. Westparlamentarier schaffen den Wechsel ins Berufsleben leichter als ihre Ostkollegen

VON TILMAN VON ROHDEN

Peter Rauen hat im letzten Jahr hingeschmissen. Als Letzter machte der Chef eines Bauunternehmens mit 100 Angestellten das Licht aus. Damit ging eine 40 Jahre andauernde erfolgreiche Unternehmertätigkeit planvoll zu Ende. Arbeitslos ist Rauen dennoch nicht, denn er sitzt zugleich seit vielen Jahren im Bundestag und ist darüber hinaus Vorsitzender der Mittelstandsvereinigung von CDU und CSU. „Die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen für mittelständische Bauunternehmer sind schlecht. Ich wollte mich nicht arm arbeiten, um anschließend in die Insolvenz zu gehen. Ich zog einen rechtzeitigen Ausstieg ohne finanzielle Blessuren vor“, kommentiert Rauen seinen Schritt.

Dieser berufliche Weg ist nicht unbedingt typisch für deutsche Parlamentarier. Denn nach einer noch nicht vollständig ausgewerteten Befragung von Abgeordneten auf Landes-, Bundes- und EU-Ebene durch den Sonderforschungsbereich Gesellschaftliche Entwicklungen nach dem Systemumbruch an der Universität Jena üben viele Abgeordnete neben ihrer parlamentarischen Tätigkeit einen bürgerlichen Beruf aus. Obwohl, so Rauen, die Doppelbelastung „enorm“ sei. Für die Politik habe das aber große Vorteile, weil gute Politik immer auch von den vielfältigen Lebenserfahrungen der Parlamentarier abhänge.

In den vier befragten westdeutschen Landtagen jobben 41 Prozent aller befragten Parlamentarier. Im Bundestag beträgt die Quote 28 Prozent und im EU-Parlament 17 Prozent: Je höher die politische Ebene, desto geringer die Quote von Abgeordneten mit bürgerlichem Nebenberuf. Im Berliner Abgeordnetenhaus gilt dagegen die parlamentarische Tätigkeit als Nebenberuf, was sich in einer vergleichsweise niedrigen Honorierung niederschlägt. Dort haben 49 Prozent der befragten Parlamentarier einen bürgerlichen Beruf.

„Wir waren überrascht, dass so viele Abgeordnete zugleich einen bürgerlichen Beruf haben“, sagt Michael Edinger, Mitarbeiter im Sonderforschungsbereich. Festgestellt habe er auch, dass deutlich mehr westdeutsche als ostdeutsche Parlamentarier eine Nebentätigkeit ausüben. Dies liegt nach Edinger nicht nur daran, dass im Westen die freien Berufe stärker verbreitet sind. Möglicherweise sei die Arbeitsbelastung von ostdeutschen Abgeordneten höher, weil sie weniger Erfahrungen im Umgang mit demokratischen Gremien und Entscheidungsprozessen haben. Außerdem mussten zu Beginn der 90er-Jahre im Osten sehr viele neue Gesetze gemacht werden. Die gewählten Volksvertreter hatten für Nebentätigkeiten entsprechend weniger Zeit. Diese Konstellation könnte auch heute noch Wirkung haben.

Westdeutsche Abgeordnete betreiben nach Angaben von Edinger eine stärkere politische Karriereplanung, obwohl der Volleinstieg in die Politik schon in sehr jungen Jahren selten sei. Meistens entwickle die politische Karriere erst im Laufe der Jahre eine Eigendynamik, die am Anfang nicht abzusehen war. Viele westdeutsche Politiker würden sich aber dennoch ein Hintertürchen in bürgerliche Berufe offen halten.

Westdeutsche Parlamentarier sind auch deshalb im Vorteil, weil im Westen die politischen Mehrheiten verlässlicher sind. Außerdem würden westdeutsche Politiker, so Edinger, von den beruflichen und sozialen Sicherheiten, die politische Parteien geben können, mehr profitieren: Die Parteien im Westen seien stärker in Verbänden und der Wirtschaft verankert, Listenplätze seien sicherer. Das würden westdeutsche Abgeordnete für ihre Karriereplanung nutzen.

Untersucht wurden auch die Karrieren ehemaliger Parlamentarier. Das Ergebnis: Westdeutsche Parlamentarier kennen praktisch keine Arbeitslosigkeit, wenn sie ihre parlamentarische Laufbahn beenden. Zwölf Prozent ihrer ostdeutschen Kollegen sind dagegen in dieser Situation mit zeitweiliger Arbeitslosigkeit konfrontiert.

Annelie Buntenbach, ein früheres Bundestagsmitglied der Grünen, schlug nach den Ergebnissen der Studie einen typischen Weg ein: Sie heuerte bei einem Verband, der Industriegewerkschaft Bauen, Agrar und Umwelt, an. „Ich hatte mehrer Jobangebote und konnte auswählen“, so Buntenbach. Dennoch habe der Berufswechsel eine deutliche Umstellung erzwungen: „Parlamentarier haben einen großen Aktionsradius. Sie haben eine außergewöhnliche Zeitsouveränität und große Spielräume, wie sie ihre Tätigkeit ausfüllen.“ Buntenbach berichtet, dass die berufliche Neuorientierung so manchen früheren Parlamentarier in eine Krisensituation stellt. Es gelte als ehrenrührig, keinen Job zu finden, deshalb gebe es viel Show. Offene Gespräche über berufliche Probleme würden nur mit intimen Freunden geführt.