Ein Zuchtteich für junge Talente

In Berlin leben und arbeiten rund 200 niederländische bildende Künstler. Das ist mehr als zum Beispiel in London oder Paris. Berlin lockt sie mit seiner Weite und dem Respekt vor dem Kunstschaffen. Einer, der das genießt, ist Ronald de Bloeme

VON SERGE SEKHUIS

Soeben hat er ein neues Kunstwerk abgeholt. Von der Post. Ein Bild, 40 x 50 Zentimeter groß. Selbst gemalt. Ronald de Bloeme hat es schicken lassen, erst nach New York. Und dann wieder zurück. Das Adressschild ist etwas schief aufgeklebt, der Postbote hat mit Filzstift drauf geschrieben, er hat dreimal umsonst an die Tür geklingelt. In de Bloemes Atelier, im obersten Stock der Kunstfabrik am Flutgraben in Kreuzberg, hängen noch mehr geschickte Bilder. Es ist de Bloemes neuestes Projekt.

Was ihn angeht, kann die Post nicht unvorsichtig genug sein. „Sieh mal, hier an dieser Seite war die Farbe noch nicht ganz trocken. Der Postbote fühlte sich sicher schuldig, dass er mit seinen nassen Fingern mein schönes Ölbild so beschädigt hat. Ich finde es großartig, was er gemacht hat.“

32 ist Ronald de Bloeme jetzt, geboren in der niederländischen Provinz Friesland, aufgewachsen in Rotterdam. Vor vier Jahren kam er mit einem staatlichen Stipendium der Niederlande nach Berlin. Sechs Monate konnte er in einem Atelier des renommierten Künstlerhauses Bethanien arbeiten. Berlin lockte ihn, als Zuchtteich für junge Talente, brausender Mittelpunkt von Kreativität, Inspiration und Erneuerungsgeist. Er ist nie wieder zurückgegangen.

Ronald de Bloeme ist einer von rund 200 niederländischen bildenden Künstler, die in der deutschen Hauptstadt leben und arbeiten. Unter ihnen Maler, Bildhauer, Fotografen, Gestalter und Bühnenbildner. Außerdem Autoren, Schauspieler und Sänger, manche sogar in Lohn und Brot. An der Komischen Oper zum Beispiel singen mehrere NiederländerInnen. Die meisten „Kreativen“ jedoch sind freie Künstler. Sie arbeiten im eigenen Atelier. Einigen bleiben nur wenige Monate, andere für immer.

Nur eine Minderheit wird staatlich subventioniert, weiß George Lawson, Kulturattaché an der Niederländischen Botschaft, verantwortlich für, wie er selbst sagt, „die Blüte der vaterländischen Kunst in Deutschland und der Hauptstadt“. Viele Künstler kennt er persönlich und arrangiert zum Beispiel die Logistik, wenn de Bloeme oder andere irgendwo eine Ausstellung haben.

De Bloeme kann aus seinem Atelier übers Wasser blicken. Die Frühlingssonne spiegelt sich im Flutgraben, der einmal die Grenze war zwischen Ost und West. Damals war die Kunstfabrik eine DDR-Straßenbahnremise. Heute steht das Gebäude unter Denkmalschutz und wird gerade renoviert. Innen scheint die Zeit nicht vergangen zu sein. Schäbige Betonwände, düstere Flure, unverputzte Heizungsrohre an der Decke, abblätternde Farbe und durchgesessene Polstergarnituren bestätigen alle Vorurteile, die es gegen Arbeitsumgebungen von Künstlern gibt. Seine Werke stehen im Raum verteilt. Aneinander genähte Postsäcke, in der ganzen Welt gesammelt. Und Markisenstoff. Das sind seine Rohstoffe, die bemalt er mit zumeist grellen, auffälligen Farben. Spuren und Reisen sind sein Hauptthema. Die Inspiration, die Berlin de Bloeme gibt, spiegelt sich natürlich indirekt in seinen Werken. Als er noch an der Akademie studierte, hatte er bereits ein Faible für deutsche Malerei. Anselm Kiefer, Sigmar Polke und die neuen Wilden. Genau so wollte Ronald de Bloeme selbst auch arbeiten.

1996 reiste er zum ersten Mal nach Berlin. Er kannte jemanden in Prenzlauer Berg und logierte dort einige Wochen. „Damals war es ganz anders als jetzt, kaum etwas dort war renoviert. Du sahst und fühltest, wie es gewesen sein musste zu DDR-Zeiten. Das Graue und Deprimierende.“ Jeden Abend und jede Nacht gab es irgendwo ein Fest, erzählt de Bloeme. Ein Zimmer zu mieten kostete einfach fast nichts. „Noch immer aber hast du hier in Berlin allen Raum, wörtlich und inspirativ gesprochen.“ Ein Atelier gibt es schon für 300 Euro im Monat. „Versuch das mal in Amsterdam.“ Da verlangen sie wirklich empörende Preise, wenn man überhaupt etwas findet. „Im behäbigen Amsterdam passiert auch einfach nichts Neues mehr.“ Hier in Berlin schon. Noch ist nicht alles kommerzialisiert, „obschon ich sagen muss, dass es mit den Ateliers im Tacheles in der Oranienburger Straße in die falsche Richtung geht“. Da halten täglich Busse mit Touristen. „Ein Künstler darf nicht zu komfortabel leben, echte Kreativität wird geboren aus der Armut heraus, denke ich.“ Auch de Bloeme musste sich einen Job suchen, um sein Künstlerdasein finanzieren zu können. Einige Tage in der Woche jobbt er in einem Geschäft für Malereibedarf.

Noch dreimal besuchte de Bloeme seit 1996 Berlin, bevor er in Mai 2000 mit dem Stipendium in der Tasche definitiv anreiste. Einer inneren Stimme folgend zog ihn etwas in die Stadt an der Spree. Immer wieder gingen ihm die Wörter Freiheit und Raum durch den Kopf. „In Berlin ist noch nicht alles so zugepflastert und glatt gestrichen wie in Paris oder London. Es gibt noch manches zu entdecken hier.“ Für de Bloeme ist ein Künstler nichts anderes als ein Abenteurer und ein Entdecker, der unbekannte Pfade als Erster betritt. Er ist der Wegbereiter der Gesellschaft.

Mit dieser oder einer ähnlichen Mission im Kopf versuchen die rund 200 niederländischen KünstlerInnen hier kreativ zu sein. Das Problem ist nur, dass es in Berlin zu viele Künstler gibt – für zu wenig Galerien. So können nicht alle regelmäßig in ihrer „eigenen Stadt“ ausstellen. „Das Künstlerleben hier ist zudem härter als zu Hause“, meint de Bloeme und scheint sich über die Herausforderung der Fremde zu freuen. Denn er werde hier nachdrücklicher auf seine Arbeit angesprochen, was er macht, wieso, warum. Gleichzeitig gäbe es auch mehr Respekt für den Künstlerberuf. „Hier bist du ein Fachmann, zu Hause hingegen ein herumtrödelnder Unterstützungsempfänger.“

Das sieht auch der Kulturattaché so. Er hat in Berlin schon viele niederländische Künstler „sich selbst immer neu erfinden sehen“. Viele seien hier erwachsener geworden, meint er. „In den Niederlanden werden ihre Werke eigentlich immer nur auf zwei Weisen beurteilt: schon schön oder: Man kann damit doch nichts anfangen.“ In Deutschland hingegen erwarte ein kritischer Betrachter von einen Künstler, dass er über seine Arbeit auch Auskunft geben kann, mehr sagt als nur: „Sieh es, wie du es sehen willst!“ Die Anziehungskraft Berlins, sagt George Lawson, sei ein Geheimnis, das man erst entdecke, wenn man etwas länger hier ist. Geschichte sei dabei eine wichtige Komponente. Insbesondere die neuere Geschichte, deren Spuren an jeder Straßenecke zu finden seien. Einschusslöcher an den Häuserfassaden, Mauerreste. Gleichzeitig lebe Berlin für das Heute. Die Stadt baue an der Zukunft. Immer und überall werde gebaut. Berlin ist immer auf dem Weg, etwas zu werden. „Es gibt Leute, die das nervös macht, anderen gibt es richtig viel Energie.“