Lebensmüde als Sparpotenzial

Das Therapiezentrum für Suizidprävention am Hamburger Uniklinikum macht niedrigschwellige Angebote für Lebensmüde. Die Finanzierung ist immer prekär gewesen, weil die Kassen nur die Hälfte der Kosten tragen. Jetzt droht wieder einmal das Aus

von FRIEDERIKE GRÄFF

„Schlecht zu verkaufen“, würde ein Marketingexperte vermutlich zu Reinhard Lindner sagen. Suizid ist kein Thema, mit dem sich die Leute gern beschäftigen. Und Prävention? Da gibt es keine eindeutigen Zahlen, wie viele Menschen man vom Suizid abgehalten hat. Wäre Reinhard Lindner Leiter der Seenotrettung hätte er weniger Sorgen. Aber Lindner ist Leiter des Therapiezentrums für Suizidprävention an der Uniklinik in Hamburg-Eppendorf (TZS), und mit Zahlen muss er sich einmal pro Jahr sehr eindringlich befassen. Dann nämlich, wenn die Einrichtung wieder einmal vor dem finanziellen Aus steht.

Auf dem Plan des Klinikums ist das TZS nur als gelbes Rechteck S 19 ohne weitere Erklärung zu finden. Im Besprechungszimmer des Flachbaus, der sich dahinter verbirgt, sitzen an einem grauen Dezembertag Reinhard Lindner und sein Stellvertreter Georg Fiedler und versuchen zu erklären, warum ihre Arbeit unterstützt werden muss. Kurz gefasst, sagen sie folgendes: Das Zentrum ist wichtig für alle Patienten, die Angst vor einer stationären Behandlung in einer Klinik haben. Viele haben bereits Psychiatrie-Erfahrung – und wollen auf keinen Fall mehr davon sammeln.

Im TZS wurden seit seiner Gründung 1990 rund 3.500 solcher Patienten behandelt. Ob die nicht ebenso gut Hilfe bei niedergelassenen Therapeuten finden könnten? „Die niedergelassenen Nervenärzte bekommen zweimal 20 Minuten pro Quartal für solche Beratungen – wenn sie mehr Zeit darauf verwenden, ist es ihr Privatvergnügen“, sagt Georg Fiedler dazu. Bei den Therapeuten gibt es oft lange Wartelisten – im TZS bekommen Hilfesuchende unmittelbar einen Termin.

Fiedler und Lindner liegt es fern, Kollegen zu nahe zu treten. Nicht den niedergelassenen Therapeuten und auch nicht den Klinikärzten in den anderen psychiatrischen Ambulanzen der Uniklinik. Auch dort finden suizidgefährdete Patienten Anlaufstellen. Was die Mitarbeiter des TZS vor allem von ihnen unterscheidet, ist die Behandlungsmethode: Psychoanalyse. Dabei denkt man unwillkürlich an mehrjährige Behandlungen, tatsächlich ist das Ziel, die Patienten nach einem dreiviertel Jahr an einen niedergelassenen Therapeuten weiterzuverweisen. „Lotsenfunktion“, nennen sie das und zur Zeit lotsen sie nach eigenem Empfinden fast zu sehr. Denn das TZS hat bereits Federn lassen müssen: Seitdem die Wissenschaftsbehörde und das UKE ihre Förderung gekürzt haben, hat das Zentrum seine Sprechstunden bereits eingeschränkt.

Und was kann das TZS für sich als Erfolg verbuchen? Die Zahl der Suizide ist in Hamburg deutlich gesunken, im letzten Jahr waren es 220. Dieser Rückgang ist jedoch in allen Bundesländern zu verzeichnen, 2007 ist die Zahl zudem in Hamburg wieder gestiegen. „Ein statistischer Ausreißer“, sagt Georg Fiedler. Und der Rückgang zuvor? Wahrscheinlich einer Vielzahl von Faktoren geschuldet. Auch dem neuen Methadonprojekt in Hamburg. „Wir können uns nicht alles auf die Fahnen schreiben.“

Den letzten Brandbrief hat der Förderverein des TZS im November geschrieben, weil ihm zugetragen worden war, dass der Senat die erwarteten 240.000 Euro Zuschuss 2009 nicht mehr zahlen würde – wegen anderer Belastungen, unter anderem der Unterstützung der HSH-Nordbank, wie der Förderverein gehört haben will. Das wiederum war dem Sprecher der Wissenschaftsbehörde „unbekannt“, der optimistisch ist, eine Lösung mit dem UKE zu finden. Der Senat hatte übrigens 2007, auf eine Anfrage der SPD hin, die Fortführung der Arbeit „ausdrücklich begrüßt“.

Doch eigentlich, so scheint es, ist das Problem ein viel grundsätzlicheres: Die Kassen zahlen mit ihren Pauschalen nur die Hälfte der im TZS anfallenden Kosten. Die Behandlung ist zeitaufwändig, Stunden fallen wegen kurzfristiger Absagen aus – wobei die Abbrecherquote fast dreimal niedriger als beim Durchschnitt dieser Patientengruppe liegt. Hinzu kommen Leistungen, die sich nicht abrechnen lassen: Telefonate mit Angehörigen, „Prävention eben“, sagt Georg Fiedler dazu.

Das hat in der Vergangenheit durchaus zu Streit mit anderen Abteilungen des UKE geführt, die sich für das Defizit des TZS bluten sahen. Schließlich wurde der gleiche Verteilungsschlüssel für alle eingeführt und das Zentrum sah sich noch stärker in der Pflicht, Sponsorengelder und Drittmittel einzuwerben. Durchaus mit Erfolg – die Gründung selbst ist einer Drei-Millionen-Mark-Spende zu verdanken – doch natürlich wirkt die dauernde finanzielle Schieflage nicht unbedingt spendenfördernd.

Dazu kommt, dass zurzeit die naturwissenschaftliche Medizin mehr Geld einwirbt als die sozialwissenschaftliche: Die Deutsche Forschungsgemeinschaft begeistert sich eher für funktionelle Bildgebungsverfahren. So zumindest sehen es die Mitarbeiter des TZS. Die forschen neben ihrer praktischen Arbeit und eines ihrer Projekte beschäftigt sich mit einem Konsildienst in einer Hamburger Geriatrischen Klinik: einer unaufwändigen Anlaufstelle für die Suizidgefährdeten, die sich am schwersten tun, Hilfe von außen anzunehmen: Alte. Damit ist man wieder bei einem dieser Vorhaben, die die Marketingexperten nicht überzeugen.

Fotohinweis:Wer auf dem schmalen Grat zwischen Diesseits und Jenseits wandelt, soll im Therapiezentrum für Suizidgefährdete sofort Hilfe finden: nämlich einen Termin am selben oder nächsten Tag. Erst nach einem Dreivierteljahr überweisen die Suizid-Spezialisten ihre Patienten weiter an niedergelassene Therapeuten. In jedem Behandlungsraum stehen Taschentücher bereit, denn die Therapie geht sofort los. Zweites Standbein ist die wissenschaftliche Arbeit, mit der sich das Zentrum zwar Meriten erworben hat, aber weder für Drittmittel-Institutionen noch für Sponsoren aus der Wirtschaft attraktiv geworden ist. Fotos (3): Ulrike Schmidt