Anne Rudelbach und Antoine Effroy stellen auf Kampnagel ihre neue Choreographie „74‘“ vor
: Der alte Mann und das Lied

Die Köpfe gesenkt, durchquert eine Menschenmenge den Raum auf der Probebühne. Wie angesogen zieht es sie in gerader Linie von rechts nach links, dann entlang der hinteren Wand zurück zum Ausgangspunkt, von wo aus sie zu einem nächsten Gang ansetzt. Junge und ältere Menschen sind es, Männer und Frauen, einige gehen langsam, andere schneller. Dann heben sich ihre Blicke, auf ihren Gesichtern erscheint ein Leuchten. Zum Takt ihrer Schritte singt ein Mann, dessen Stimme abreißt und wieder ansetzt.

„Crowd“ überschreiben die Hamburger ChoreographInnen Anne Rudelbach und Antoine Effroy die Szene aus ihrer neuen Produktion 74‘, die von 20 Laiendarstellern gestaltet wird. Musik und Sound sind es, von denen sich Anne Rudelbach und Antoine Effroy inspirieren lassen, die ihren Choreographien einen Zeitrahmen setzen, dem sie ihre eigene Wahrnehmung von Zeit gegenüber stellen.

2000 bei ihrem Stück Anderland hatte das Programm einer Waschmaschine die Länge des Stücks und das musikalische Tempo vorgegeben. Diesmal ist es genau eine CD-Länge. 74 Minuten Musik passen auf eine CD. 74‘ ist auch der Titel des Stücks, das jetzt auf Kampnagel uraufgeführt wird. Hier war es allerdings der Komponist Gavin Bryars, der die Idee hatte, seiner Komposition ein technisch bedingtes Zeitkorsett anzulegen. „Jesus‘ blood never failed me“ – eine Zeile aus einem Gospelsong, gesungen von einem alten Mann, hat der New Yorker Komponist in eine Endlosschleife geschickt. Ein Schnipsel aus einer Aufnahme, die er Anfang der 70er Jahre unter den Obdachlosen an der Londoner Waterloo-Bridge gemacht hatte.

Rudelbach und Effroy spüren in ihrer Choreographie der Atmosphäre der Musik nach, ihrer Monotonie und der Spur von Trost in der rauhen Melancholie in der immer wieder ansetzenden Liedzeile. Vier Teile hat die gesamte Choreographie. Am Anfang steht ein Solo von Anne Rudelbach, das sie bereits vor zwei Jahren beim Festival „Feuer & Flamme“ auf Kampnagel gezeigt hat. Dem filigranen Vokabular der Tänzerin folgt die Alltagsbewegung in „Crowd“. „Die Rückbesinnung auf die Einfachheit empfinde ich als besondere Herausforderung“, sagt sie. Der dritte Teil der Choreographie besteht aus einem Video. Unendlich langsam fährt die Kamera darin einen nackten Frauenkörper ab, zeichnet dessen Konturen als surreale Landschaft nach.

Am Schluss steht ein Duett. Zwei Männer begegnen sich, ein Tänzer und ein Schauspieler. Es ist der Part in Bryars‘ Komposition, in dem sich zur Stimme des alten Mannes die von Tom Waits gesellt. Antoine Effroy hat dafür den Schauspieler Matthias Breitenbach eingeladen, der bis Ende der vergangenen Saison am Deutschen Schauspielhaus engagiert war.

Marga Wolff

Uraufführung: Mi, 21.4., 20 Uhr, Kampnagel