Das Dauerleihgabenmuseum

Osnabrück will „Kulturhauptstadt Europas 2010“ werden – Die Wahrheit ist dabei

Die zwischen Teutoburger Wald und Wiehengebirge gebettete, mit schmucken Asphaltbändern umgürtete niedersächsische Gemarkung Osnabrück bewirbt sich um den Titel „Kulturhauptstadt Europas 2010“ und löckt damit wider die Landesregierung, deren Wohlwollen allein auf Braunschweig ruht. Die Wahrheit wird Osnabrück auf dem langen Weg durch die Institutionen publizistisch begleiten und nach bestem Vermögen unterstützen.

Wer die stolzen Viadukte der vorstädtischen Verkehrswege hinter sich gelassen und das kindlich-quirlige Toben dem Stadtkern zuströmender Fahrzeuglenker auf den Einfallstraßen heil überstanden hat, gelangt schließlich in das eigentliche Osnabrück, dorthin, wo den Besucher das Air von Kultur und Historie umfängt. Ein paar Schritte nur, und schon bestätigt sich, was das Unterbewusstsein bereits vage erspürte: In den Mauern dieser Stadt wirkten große Männer, hier ereignete sich Geschichtsträchtiges sondergleichen. Viele Geistesgrößen wechselten vom idyllischen Ufer der Hase direkt auf den Parnass – im damaligen Regierungsbezirk Osnabrück fügte der urdemokratische Musikus Albert Lortzing Note an Note, hier wies der Staatsmann Justus Möser französische Revolutionäre allein kraft seiner Sprachmacht in ihre blutbesudelten Schranken.

Zwei hochmögende Söhne der Stadt – es gab auch Töchter, von denen jedoch etliche durch Hexenverbrennungen und andere Unannehmlichkeiten von der Verwirklichung ihrer jeweiligen Spleens abgelenkt waren – wurden quasi stellvertretend für die Galerie großer Köpfe auserwählt und eingespannt, der aktuellen, das Jahr 2010 ins Auge fassenden Kampagne Schub und Charme zu verleihen: der nicht allein als Romancier tätig gewesene Erich Maria Remarque und der Maler Felix Nussbaum. Beide haben aussagekräftige Zeugnisse des 20. Jahrhunderts hinterlassen; darüber hinaus ist ihnen gemein, dass sie Osnabrück bereits in jungen Jahren entflohen – Remarque wartete immerhin seinen 24. Geburtstag ab, Nussbaum ging mit 18. Der Schriftsteller starb exiliert, aber unter recht kommoden Umständen 1970 in Locarno, der Maler wurde 1944 in Auschwitz ermordet.

„Die Geburtsstadt hat ihn verstoßen oder doch zumindest keine Hand zu seinem Schutze erhoben“, schrieben noch 1982 Peter Junk und Wendelin Zimmer in ihrer grundlegenden Nussbaum-Monographie. Eine gewiss aus bestem Wollen entstandene, aber wie manch andere Spitze deutlich neben dem Ziel auf- und folglich abprallende Provokation, die in Osnabrück teils mit der hier vorherrschenden Nachsicht aufgenommen, teils mild ignoriert wurde. Als in den 1980er-Jahren die frühere Wohnstatt der Familie Nussbaum zum Verkauf stand, mochte die Stadt die Kaufsumme in Höhe von einer Million D-Mark nicht bereitstellen, weil der ausgefuchste Anbieter, eingedenk des historischen Wertes der Immobilie, um die 20 Prozent auf den Verkehrswert aufgeschlagen hatte. Dabei hätte die mittlerweile zusammengetragene kleine Nussbaum-Sammlung in der zentrumsnah gelegenen Stadtvilla angemessen und noch dazu mit biografischem Bezug untergebracht werden können. Selbst für einen Anbau wäre, falls nötig, noch Platz gewesen.

Mit den Zeiten haben auch die Sinne sich gewandelt. Heute ist Felix Nussbaum den Osnabrückern nicht nur lieb, sondern wahrhaft teuer, was sich unter anderem im Bau eines Nussbaum-Museums ausdrückte. Das fremdenverkehrsrelevante Vorzeigeobjekt, im internen Sprachgebrauch als „Marketingschwerpunkt“ gerühmt, kostete letztlich 13,4 Millionen D-Mark mehr als der Ankauf der Nussbaum-Villa ausgemacht hätte. Zwar musste zwecks Finanzierung zunächst einmal die Nussbaum-Sammlung veräußert werden, blieb aber als Dauerleihgabe in der Stadt. Gottlob, denn sonst hätte man am Ende womöglich ein Nussbaum-Haus ohne Nussbaum-Bilder gehabt.

Dem von Daniel Libeskind entworfenen Gedenkensemble wurde allerlei Symbolik beigebracht, die sich dem Betrachter am besten aus der Hubschrauberperspektive erschließt. Als begehbare Skulptur konzipiert, lässt der Bau zwar funktional zu wünschen übrig, schmückt aber ungemein. Jeder folgende Karriereschritt des längst nach New York weitergezogenen Architekten wurde seither von der ortsansässigen Presse argusäugig observiert und jeweils Gegenstand ausführlichster Berichterstattung: denn Osnabrück kann von sich behaupten, diesem Star unter den Baumeistern den Boden bereitet zu haben. So aber kam es, dass sich heutigentags neben Berlin und New York auch die Perle Südwestniedersachsens in dem von Libeskind ausgehenden Abglanz sonnen darf. CASPAR WIEDENBROCK