„Alles ist politisch“

Sana Bakheet ist 19 Jahre alt und 800-Meter-Läuferin. Bei den Olympischen Spielen im Sommerin Athen will sie als eines von drei Mitgliedern der palästinensischen Mannschaft teilnehmen

AUS JERUSALEM SUSANNE KNAUL

Eine alte Colaflasche, gefüllt mit Leitungswasser, ist alles, was Sana Bakheet zum Training mitnimmt. Sie steckt sie in eine Plastiktüte, legt sie in den Sand und trabt los. Ein paar hundert Meter hin und wieder zurück, entlang am menschenleeren Mittelmeerstrand von Dir Balach, wenige Kilometer südlich der Stadt Gaza. Das idyllische Panorama gilt einem Fototermin. Normalerweise trainiert Sana auf der anderen Straßenseite, auf einem Acker. Dort verfolgt sie ihr Ziel: die Teilnahme an den Olympischen Spielen im Sommer in Athen. Im 800-Meter-Lauf will Sana dort starten.

Trotz heißer Frühlingstemperaturen trägt die 19-Jährige einen knöchellangen Trainingsanzug, den sie von ihrer älteren Schwester übernommen hat, die Haare stecken unter einer Sportmütze. Das keusche Outfit schützt Sana nicht vor verärgerten Blicken und Kommentaren frommer Passanten, „weil ich als Mädchen renne“, wie Sana weiß: „Die Leute schimpfen mich eine Verräterin.“ Dass Frauen öffentlich Sport treiben, passt nicht ins traditionell-islamische Bild. Doch Sana scheint das nicht sonderlich zu stören, zumal sie die volle Rückendeckung ihrer Familie genießt, auch wenn sie in Athen ohne Mütze und in knappem Trikot an den Start gehen wird. Ihre Mutter ist als Mädchen selbst gelaufen. „Sana hat meine Erbanlagen“, sagt sie lachend.

Trainer Samir al-Nabaleen gibt Anweisungen. Auf dem Programm stehen Dehnübungen, 300-m-Sprints und Ausdauertraining. Er hat eineinhalb Jahre an der Universität von Mainz Sport studiert und erklärt in brüchigem Deutsch das von ihm erarbeitete Trainingsprogramm. Sana ist „Palästinas Sportlerin des Jahres 2003“, bei Wettkämpfen in Gaza und Ägypten hat sie meist gewonnen. Illusionen, bei Olympia auch nur die Vorrunde zu überstehen, hegt die Sportlerin nicht. Ihre Bestzeit liegt bei 2:28 Minuten und damit rund 35 Sekunden über dem Weltrekord. „Ich bin einfach froh, dabei zu sein“, sagt Sana.

Für mehr als das mangelt es vor allem an guten Trainingsbedingungen. Das alte Stadion in der Stadt Gaza ist seit über 50 Jahren nicht mehr restauriert worden, von der von Qatar versprochenen Sporthalle, die 1999 fertig gestellt werden sollte, steht noch immer nur ein Fundament. Zudem fehlt es Sana an medizinischer Betreuung, an einem Kraftraum und an professionellen Trainern. Coach Samir hofft, dass es nach ihrer Olympia-Teilnahme Sponsoren gibt und Sana mit deren Hilfe bis zum Jahr 2008, wenn es „nach China geht“, ihre Bestzeit auf zwei Minuten steigern kann. „Bis dahin wird auch nicht geheiratet“, fügt Samir mit strengem Blick an. An Hochzeit denkt Sana derzeit ohnehin nicht, viel mehr träumt sie von einem Sportstudium im Ausland. „Sie sollte nach Deutschland gehen“, sagt ihr Trainer. Sana nickt: „Wenn ich ein Stipendium bekomme – warum nicht?“

Von der palästinensischen Autonomiebehörde sieht die Athletin keinen Schekel. Im Sportministerium von Ramallah weiß man noch nicht einmal von ihrer Existenz, so wenig wie von der Abdel Salam Narishis, dem zweiten 800-Meter-Läufer aus dem Gaza-Streifen, der seit ein paar Monaten in Ägypten trainiert. „Ja, wir haben einen Olympiateilnehmer“, heißt es in Ramallah auf Anfrage: „Einen Schwimmer aus Jabel Mukaber“, einem Viertel in Ost-Jerusalem.

Raed Awisat heißt der 17-Jährige, der in Athen über 100 Meter Schmetterling „für Palästina“ schwimmen wird. „Ich repräsentiere mein Volk und bin glücklich darüber“, sagt er stolz. Auch er liegt mit 58,95 Sekunden weit über dem Weltrekord von 50,98 Sekunden. In dem von seinem Vater und Trainer ausgebauten 25-m-Becken schwimmt Raed täglich zweimal drei Stunden.

Bis vor gut drei Jahren hatte der junge Mann noch die Möglichkeit, im 50-Meter-Becken des YMCA im Westen der Stadt zu trainieren. Nach Beginn der Al-Aksa-Intifada Ende 2000 war es aus damit. „Sie stellten uns die Bedingung, dass er sich beim israelischen Schwimmverband einschreibt“, erklärt Raeds Vater, der seinen Jungen im Gespräch mit den Journalisten kaum zu Wort kommen lässt. „Ich bin ein Schwimmer, kein Politiker“, schafft Raed gerade noch anzumerken. „In Palästina gibt es keinen Unterschied“, wirft der Vater sofort ein: „Solange wir unter Besatzung leben, ist alles politisch.“

Raed kennt seine beiden leichtathletischen Mitstreiter aus Gaza bisher nur von Radio-Interviews und lokalen Zeitungsberichten. Unstimmigkeiten dürfte es zwischen den palästinensischen Sportlern schon im Vorfeld der Olympischen Spiele geben, denn Raed ist überzeugt davon, dass er die palästinensische Flagge tragen wird. Davon hält Sanas Coach allerdings wenig: „Ladies first“, meint Samir al-Nabaleen: „Sana muss als Erste ins Stadion einlaufen.“