Gabriel ante Posten

Wie der ehemalige Ministerpräsident von Niedersachsen sein Auskommen findet

Sisyphus hatte seinerzeit keinen Gefällebeauftragten an der Seite und rollte den Stein trotzdem

Beinahe untergegangen wäre im süßen Rummel um die Agenda 2010 auf dem letzten SPD-Parteitag die wichtigste und zweifellos folgenreichste Entscheidung, die das Präsidium der Sozialdemokraten in den vergangenen Tagen getroffen hatte. Eine Entscheidung von immenser Tragweite. Von geradezu existentiellster Bedeutung für eine Partei, die, seitdem sie mit ihrer Politik im Irakkonflikt auch einen ihrer letzten traditionellen Grundwerte, die Zustimmung zum Krieg und die Bewilligung von Kriegskrediten, aufgegeben hatte, politisch vollends unglaubwürdig geworden war. Eine Partei, die heute am Abgrund ihres Opportunismus steht, und morgen vielleicht schon einen Schritt weiter sein könnte – wenn, ja wenn Sigmar Gabriel nicht vom SPD-Präsidium zum Beauftragten für Popkultur und Popdiskurs ernannt worden wäre. Das war der Befreiungsschlag, die Rettung, der Weg aus der Krise.

Sigmar Gabriel, dies zur Person, ist knapp hinter dem in der Lüneburger Heide gelegenen 169 Meter hohen Wilseder Berg die zweihöchste Erhebung Niedersachsens. Seit seiner Wahlniederlage wurde der Ex-Ministerpräsident zwar als eine Art Vize-Ersatzreserve-Kanzlerkandidat in spe gehandelt, wirkte aber oft fahrig, regelrecht unausgelastet, und versuchte hilflos, sich mit weithergeholten Vorschlägen etwa zur Anhebung der Sockelgrenze bei der Deckelpauschale im Gespräch zu halten. Alles, was er wollte / war Revolte. / Doch alles, was er hatte / war Krawatte … bzw. hier und da eine Randnotiz in der Rubrik Vermischtes.

Nun aber ist er der Parteiobmann für Popkultur und Popdiskurs. Was für ein Amt! Welche Verantwortung! Der Posten wurde eigens für den bulligen Trumm aus Goslar ins Leben gerufen. Die Partei hat zusammengesessen, endlose Sitzungen und Debatten durchgestanden und sich dann auf ihre ureigene und zentrale Tradition besonnen: die Schaffung von Pöstchen für ihre Mitgliederchen.

Wer glaubt, die SPD sei tot, ausgebrannt, abgeledert, irrt. Eine vitale Partei hält sich nicht lange mit politischen Programmen, Konzepten und Visionen auf, die übermorgen schon von vorgestern sind. Sie schafft Posten, sie kreiert Posten, sie schöpft Posten. Je fantasievoller, umso attraktiver für alle Beteiligten. Denn der Mensch ist auswechselbar, der Posten aber bleibt.

Mit der SPD hat erstmals in der Weltgeschichte eine Partei einen Posten für einen einzelnen philosophischen Begriff geschaffen, nämlich „Diskurs“. 30 Jahre vagabundierte er ohne einen SPD-Obmann an seiner Seite herum, damit soll jetzt Schluss sein. Und das ist nur der Anfang. Wer Popdiskurs sagt, muss zum Beispiel auch Paradigmenwechsel sagen. Zwar ist in der SPD derzeit nur eine einzige Person zu sehen, die diesen Posten bekleiden könnte, Gerhard Schröder selbst, aber vielleicht springt Gregor Gysi ein und macht als Gast den Beauftragten für Paradigmenwechsel und, sagen wir, Parapsychologie. Das wäre ein kleiner shit für Gregor und kein großer für die Menschheit.

Sigmar Gabriel aber und zuallererst – er hat das Ein-Mann-Gerangel um Posten in der SPD gewonnen und ist nun Beauftragter für Popkultur und Popdiskurs! Was das für uns alle bedeuten wird, ist unabsehbar. Als Ministerpräsident von Niedersachsen umgab sich Gabriel ausschließlich mit Uralt-Schlabber-Rockern wie den Scorpions oder Peter Maffay. Er ließ sich von dem nur noch lallenden und einlullenden Udo Lindenberg einen echten „Harzer Rock ’n’ Roller“ titulieren und war im Wahlkampf gern mit dem Loppersumer Shanty Chor und der Emder Rock-Pop-Gruppe Wildcard auf Tour. Gut möglich, dass wir alle jetzt eine Zeitreise in die Vergangenheit antreten müssen. Die letzten 30 Jahre Popgeschichte werden revidiert, zurückgenommen, für ungültig erklärt und der ganze Diskurs noch einmal neu aufgerollt.

Wie Sigmar Gabriel das allein bewerkstelligen will, ist zwar schleierhaft, aber auch wurscht. Sisyphus hatte seinerzeit keinen Gefällebeauftragten an der Seite und rollte den Stein trotzdem. Seinem Nachfolger bei der SPD, Sigmar Gabriel, wird ein bisschen Bewegung nicht schaden. Wenn er durchhält, wer weiß, gibt’s demnächst vielleicht ein Amt für Diskursfragen, das Schnupperdiskurse für Anfänger anbietet, die später einmal Diskursminister werden wollen. Schön, dass mit Sigmar Gabriels Berufung der Bock mal wieder zum Bockmist gemacht wurde.

RAYK WIELAND