Fortschritt durch Gerechtigkeit

Die Proteste gegen die Agenda 2010 sind nötig. Weder die Globalisierung noch die Alterung der Gesellschaft sind das Problem, sondern die Steuervorteile für die Reichen

Stoibers Behauptung, dass 50.000 Arbeits-plätze je Monat verloren gingen, entbehrt jeder Grundlage

Egal ob 500.000 Menschen gegen Sozialabbau und für eine andere Wirtschaftspolitik auf die Straße gehen – Kanzler Schröder, SPD-Chef Müntefering und die Spitzenvertreter der Bündnisgrünen bekräftigen unisono: Der Reformprozess muss weitergehen. Mit dem Edelmut von wackeren Kämpfern ertragen sie den massiven Widerstand. Die Agenda 2010 ist nicht nur eine kurze Phase sozialdemokratischer Regierungspolitik.

Und auch der Bundespräsident in spe, Horst Köhler, hat angekündigt, bei der Aufklärungsarbeit der Regierung zur Seite zu stehen. Man kann gespannt sein. Denn die beiden entscheidenden Argumente für die Agenda 2010 – Globalisierung und Demografie – tragen nicht.

Deutschland ist durch die Globalisierung zu einem offenen Land geworden. Um im internationalen Wettbewerb zu bestehen, müssen die Kosten weiter gesenkt werden, so die Botschaft.

Wieso müssen wir eigentlich noch wettbewerbsfähiger werden, wenn Deutschland doch schon Exportweltmeister ist? So fragen viele. Ein Zehntel aller weltweit exportierten Güter kommt aus Deutschland. Das schafft sonst kein Land; nicht einmal die USA. Der Exportüberschuss belief sich 2003 auf knapp 100 Milliarden Euro – ein neuer Rekord. Im Januar wurden die Ausfuhren in das Billiglohnland China allein um über 20 Prozent gesteigert, während die Importe rückläufig waren.

Was häufig nicht wahrgenommen wird: Exportüberschuss heißt „Import“ zusätzlicher Arbeitsplätze nach Deutschland. Allein in der Metallverarbeitung gibt es im Jahr 2002 einen positiven Beschäftigungseffekt durch den Exportüberschuss in Höhe von 750.000 Arbeitsplätzen.

Angst um den Arbeitsplatz wird geschürt mit Berichten über Produktionsverlagerungen ins Ausland, insbesondere in die osteuropäischen EU-Beitrittsländer. Der Dirigent im Panikorchester ist der bayerische Ministerpräsident Stoiber. Doch die Zahl von 50.000 verlorenen Arbeitsplätzen je Monat ist frei erfunden. Weder Stoibers Staatskanzlei noch das Wirtschaftsministerium können sie bestätigen.

Der US-Wirtschaftsprofessor Stiglitz erklärt dem deutschen „Nationalökonomen“ Sinn Lehrbuchweisheiten: „Grundsätzlich ist internationales Outsourcing eine positive Entwicklung. (…) Allerdings muss eine gute makroökonomische Politik dafür sorgen, dass genug neue Stellen geschaffen werden.“ Und daran hapert es. Deshalb haben viele Belegschaften Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes – und lassen sich häufig zu deutlichen Verschlechterungen nötigen.

Deutschland ist bereits heute der Gewinner der Osterweiterung. Im letzten Jahr gingen 8,5 Prozent aller Ausfuhren in die Beitrittsländer. Das ist fast schon so viel wie der 9,5-Prozent-Anteil, der in die USA exportiert wird. Allein die Handelsbilanzüberschüsse mit Polen haben in den vergangenen Jahren 200.000 Arbeitsplätze in Deutschland gesichert.

Die Kehrseite dieses Erfolges: Die Binnennachfrage ist zu schwach. Sie müsste einen wichtigen Beitrag dazu leisten, dass Arbeitsplätze entstehen. Von der Binnennachfrage hängen schließlich vier Fünftel der Arbeitsplätze ab. Hinzu kommt, so der gesellschaftliche Konsens, das Problem Demografie.

Keine Frage, die Überalterung unserer Gesellschaft ist in der Tat eines der wichtigsten Probleme. Heute kommen knapp vier Erwerbsfähige auf einen über 65-Jährigen. Im Jahr 2050 werden es nur noch zwei sein. Viele fragen sich: Wie soll das gut gehen? Wenn die Menschen immer länger leben und gleichzeitig immer weniger Kinder bekommen, dann scheinen „natürliche“ Sachzwänge zu bestehen, den Sozialstaat zurückzufahren.

Doch: Vor 100 Jahren kamen auf einen über 65-Jährigen noch zwölf Erwerbsfähige. 1950 waren es sieben. Heute sind es vier. Wir haben also bereits einen dramatischen demografischen Wandel hinter uns. Gleichzeitig wurden in der Nachkriegszeit bis Anfang der Siebzigerjahre die deutlichsten Fortschritte beim Ausbau des Sozialstaates gemacht.

Die Steigerung der Produktivität hat in der Vergangenheit mehr Reichtum gebracht – bei weniger Arbeitszeit. So konnte auch die vergangene demografische Entwicklung bewältigt werden. Gleiches ist auch in der Zukunft möglich. Berater der Bundesregierung wie die Rürup-Kommission erwarten für die nächsten 50 Jahre deutlich mehr Reichtum. Vom Baby bis zum hundertjährigen Rentner wird für jeden das Doppelte zur Verfügung stehen – trotz demografischer Verschiebungen.

Der Reichtum wird aber nicht automatisch gleichmäßig auf alle Köpfe verteilt. Neu geschaffener Reichtum ist zunächst in den Kassen der Unternehmer. Werden bis 2030 die Löhne im Gleichschritt mit der Steigerung der Produktivität erhöht, werden wir durchschnittlich rund 2.000 Euro pro Monat mehr haben, preisbereinigt. Ohne die jetzigen Verschlechterungen in der Rente müssten wir dann 60 Euro mehr Beitrag zahlen – nicht viel für eine sichere Rente.

Politiker, die von Überalterung reden, haben sich aber längst auf eine beständige Umverteilung von unten nach oben eingestellt. Verteilungskonflikte sind daher die tatsächliche Ursache des scheinbaren Sachzwangs Demografie. „Wir machen die Agenda 2010, damit die Unternehmer immer reicher werden“, klingt nicht so eingängig wie das Gerede von der Überalterung.

Die Zukunft der Dienstleistungsarbeit liegt in qualifizierten sozialen Dienstleistungen

Bei Abbau von Arbeitslosigkeit und besseren Berufschancen für Frauen können die Belastungen durch die demografischen Veränderungen sogar noch weiter reduziert werden. Denn höhere Erwerbsbeteiligung ist gleichbedeutend mit mehr Beitragszahlungen in die Rentenkassen.

Nur ein Beispiel: Viele Frauen mit Kindern würden gerne wieder arbeiten, finden aber keine geeignete Betreuung für ihr Kind. Das sähe anders aus, wenn endlich mehr und bessere Krippen, Kindertagesstätten, Horte und Ganztagesschulen eingerichtet würden. Die Zukunft der Dienstleistungsarbeit liegt aber nicht im Supermarkt beim Tütenpacken, sondern vor allem in qualifizierten sozialen Dienstleistungen. Finanziert werden muss das durch eine stärkere Besteuerung der Reichen.

Heute bereits zeichnet sich ab, dass mit der Agenda 2010 das Land nicht vorankommt. Wirtschaftswachstum bleibt aus und die Arbeitslosigkeit sinkt nicht. Kein Wunder in Anbetracht einer Wirtschaftspolitik, die auf Kostensenkung und nicht auf Stärkung der Binnennachfrage setzt. Ein „weiter so“ ist schlicht abenteuerlich. So wird die Bundesregierung nur Wegbereiter für Merkel und Co. Die bereiten sich mit ihrer schwarzen Agenda bereits auf die konservative Revolution ab 2006 vor. Mit Vollgas in die Sackgasse – das endet bitter, vor allem, wenn am Ende eine Betonwand steht.

Gespräche mit der Regierung fruchten wenig. Die ist weitgehend beratungsresistent. So bleibt vor allem der Protest auf der Straße. Deshalb die Massenproteste am 3. April. Das kann aber nur der Anfang sein einer vielfältigen und kreativen Bewegung gegen Sozialabbau und für eine andere Wirtschafts- und Finanzpolitik. MICHAEL SCHLECHT