Es gibt ein Leben nach dem Wetter

„Wirke ich ausgebrannt?“, fragt er und wirft die Arme hoch. Man muss aufpassen, dass man ihn nicht beleidigt

AUS HAMBURG KIRSTEN KÜPPERS

Nachrichten, ein leises Lächeln im Gesicht. Draußen zerfallen Regierungssysteme, der Kanzler feiert Geburtstag, der Papst reist nach Manila, die Kommunisten putschen. Ulrich Wickert schaut zu den Menschen ins Wohnzimmer. Er redet von illegalen Waffensystemen, von Entführungen im Irak, von den Staus auf den Autobahnen, von der Reise zum Mars. Die Menschen in den Wohnzimmern gucken, sie schweigen, trinken Bier, manche schlafen. In die Stille hinein macht der Nachrichtensprecher eine listige Anspielung, sagt einen philosophischen Satz, manchmal verspricht er sich. Am Ende lächelt er sein Wetterlächeln und schickt die Menschen mit einem Gruß allein in die Nacht. Alles ist so, wie es immer war.

Nur dass Ulrich Wickert am vergangenen Wochenende erklärt hat, dass er im Jahr 2006 mit den „Tagesthemen“ aufhören will. Definitiv. Das war eine einigermaßen große Überraschung.

Es gab keinen Grund für diese Ankündigung. Wickert gilt als der beliebteste Nachrichtensprecher Deutschlands. Immer wieder finden Umfragen das heraus. Seit Jahren. Wie kommt es, dass Wickert ausgerechnet jetzt mit Journalisten spricht? Warum sagt er Sätze wie, dass er sich freut, bald mehr Zeit für seine junge Frau zu haben? Warum hört man Gerüchte, dass Sat.1 ihn als Moderator einer politischen Talkshow übernehmen will? Warum gibt es plötzlich Interviews, in denen Wickert über seinen Beruf klagt: „Man arbeitet nicht nur nachts, es geht schon morgens los“?

Man kann suchen. Natürlich kann man Gründe finden.

Zum Beispiel: Seit längerem verliert die „Tagesthemen“-Sendung Zuschauer. Vor einigen Jahren guckten noch 6 Millionen Menschen zu. Jetzt schalten im Schnitt nur 2,2 Millionen die „Tagesthemen“ ein. Im vergangenen Sommer begann die Bild-Zeitung, die „Tagesthemen“ zu kritisieren. Auch andere Zeitungen schrieben böse Artikel: Die Sendung bringe langweilige Berichte, uninteressante Interviews. Ende des Jahres fing der Kollege vom ZDF an zu lästern. In einem Interview sagte Claus Kleber, der Moderator vom „heute journal“: „Unsere Sendung ist frischer als die ‚Tagesthemen‘.“ Über den Kommentar zwischen den Beiträgen meinte er: „Ich hoffe, dass die ARD das nie abschafft, denn das hilft uns sehr. Ich schätze mal, jeder zweite Zuschauer schaltet in diesen anderthalb Minuten auf Durchzug.“

Das war gemein. Für gewöhnlich kritisieren sich die Kollegen von den öffentlich-rechtlichen Sendern nicht gegenseitig in der Presse. Hinterher hat Kleber seine Sätze widerrufen. Er hat eine Kiste Rotwein an die „Tagesthemen“-Redaktion geschickt. Aber das Gerede war in der Welt.

Es fing an sich zu bewegen, es bleiben immer halbe Sätze zurück. Wer dem nachging, landete an einem regnerischen Tag im November in Hamburg. Im Büro von Ulrich Wickert laufen vier Monitore. Das Büro liegt im Erdgeschoss eines großen verschachtelten Gebäudesystems. Ein Schild vor dem Eingang gibt den Schachteln einen Namen: NDR. Wickerts Drehstuhl ist leer. Ein Roman von Patricia Highsmith liegt auf der Tischplatte, auf einem der Monitore hält Familienministerin Renate Schmidt eine Rede. Der Ton ist ausgestellt. Die Ministerin fuchtelt mit den Armen, sie wird immer wütender.

Ulrich Wickert platzt herein, ruft hallo. Er hebt die Hand, und es wird schnell klar, warum seine Mitmenschen irgendwann entschieden haben, ihn in einen Fernseher zu sperren. Ulrich Wickert ist zu groß für die wirkliche Welt. Er misst 1,96 Meter. Das ist riesig. Sein Kopf reicht fast bis zur Decke, die langen Arme und Beine schlenkern, dauernd drohen sie etwas umzuwerfen oder anzustoßen. Wenn er in seinem Büro steht, wirkt Ulrich Wickert wie Gulliver bei den Zwergen. Er faltet sich in seinen Drehstuhl. Ulrich Wickert ist einer, der reden kann, also redet er los. Er erzählt alles Mögliche, präsentiert sich als Mensch. Manchmal probiere er seine Moderationen vorher an seiner Sekretärin aus, sagt er. Er erwähnt, dass er Countrymusik mag. Er spricht von seiner Jugend, von seinen Reisen, von der Arbeit, vom Ausland: „Ich bin so oft umgezogen, ich fühle mich wie ein Zigeuner.“ Wirklich: Der Moderator der „Tagesthemen“ sitzt im blauen Lambswoolpullover in einem modernen Hamburger Büro mit vier flimmernden Monitoren und nennt sich Zigeuner. Er redet über Frankreich und über Deutschland, er spricht von Professionalität, Kompetenz und seiner Karriere als Journalist. Er lenkt das Gespräch dorthin, wo er eitel ist.

Die Eitelkeit ist kein Wunder. Die Leute lieben Ulrich Wickert. Auf der Straße lachen und winken sie, wenn sie ihn sehen. Eine Zeit lang hat Wickert Bücher über Frankreich geschrieben. Er kennt sich aus in Frankreich. Er hat dort lange als Korrespondent gearbeitet. Er ist sogar Mitglied der französischen Käsegilde. Die Frankreich-Bücher haben sich gut verkauft.

Dann hat Wickert Bücher mit moralischem Anspruch geschrieben. Über Tugenden und den Werteverfall im Land. Die Bücher wurden Bestseller. Das Moralische hat Wickerts Seriosität unterstrichen. Die Leute dachten, das ist kein billiger Fernsehfritze, der in einem blauen Studio sitzt und Spruchbänder abliest. Von Ulrich Wickert haben die Menschen den Eindruck, er ist einer, der nachdenkt. Kürzlich hat Wickert etwas Neues ausprobiert. Er hat einen Krimi geschrieben, etwas Leichtes. Auch der Krimi verkauft sich wie verrückt. Wickert kann machen, was er will, die Leute mögen ihn einfach.

Aber warum hört er dann auf? Was ist los mit den „Tagesthemen“? Wollten die anderen ihn loswerden? Gibt es eine Krise? Die Pläne für den Umbau der Sendung sind schon recht konkret. Ein ARD-Sprecher hat sich inzwischen geäußert. Er hat von Modernisierung gesprochen. In Zukunft soll es am Anfang der Sendung eine Themenübersicht geben, die Beiträge sollen verständlicher werden.

„Ich wüsste nicht, wo wir eine Krise haben“, hat Ulrich Wickert an diesem regnerischen Nachmittag gesagt. „Die ‚Tagesthemen‘ sind so erfolgreich, wie sie immer waren.“ Das stimmt nicht, aber Wickert verschanzt sich hinter einem Lächeln. Seine Version geht so: „Wenn man sich anschaut, wie sich der Fernsehmarkt in den vergangenen Jahren gewandelt hat, muss man sich nicht wundern, dass unsere Quote nicht mehr so hoch ist wie zu Beginn. Es gibt mittlerweile viel mehr Sender, gegen deren Programm wir uns behaupten müssen.“

Weil er zur Modernisierung trotzdem etwas sagen muss, räumt er ein: „Natürlich machen wir uns Gedanken. Kritik ist wichtig, weil sie dazu führt, sich an die eigene Nase zu fassen. Wir arbeiten ja ständig an unserer Sendung.“

„Man arbeitet nicht nur nachts, es geht schon morgens los“, hat Wickert neulich geklagt

Er legt die Unterarme auf den Tisch, er lehnt sich zurück. „Schon vor einem Jahr haben wir angefangen zu diskutieren, was wir besser machen können.“ Er mag das Thema nicht, er wehrt sich. Ein paar Sitzungen fallen ihm ein. Es wurde entschieden, dass die Beiträge besser werden sollten. Auch der Sendetermin musste verlässlicher werden. Die Designer arbeiteten daran, dass die Form der Sendung „lebendiger und vitaler“ werde. Das betreffe aber nicht die Redaktion. Das ist alles. Mehr sagt er nicht. Es ist klar, er will nicht darüber reden.

Seit knapp 13 Jahren moderiert Wickert die „Tagesthemen“. Jede zweite Woche ist er auf Sendung, das ganze Jahr. Er fehlt nie. Er macht seine Sache gut. Es gab eine Zeit, da alle gesagt haben, er sei die Idealbesetzung. Jetzt wollen ihn sogar die Leute von Sat.1 haben.

Er macht Schluss mit dem Gerüchten. Wickert bleibt. Bis 2006. „So sehr mich das Interesse von Sat.1 an meiner Mitarbeit ehrt: Ich fühle mich sehr wohl bei den ‚Tagesthemen‘ und werde meinen Vertrag auf jeden Fall erfüllen“, lässt er gerade über die Medien verbreiten. Er wird die Sache durchstehen, er hat schon anderes überlebt. Als er vor drei Jahren in einem Beitrag für die Illustrierte Max die Denkstrukturen des amerikanischen Präsidenten George W. Bush mit denen von Ussama Bin Laden verglich und die CDU-Chefin Angela Merkel deswegen forderte, dass er aufhört bei den „Tagesthemen“, hat auch keiner ernsthaft an eine solche Möglichkeit geglaubt. Wickert hat sich für den Vergleich entschuldigt. Er durfte sagen, dass er als junger Mensch Hasch geraucht hat. Früher las man manchmal was über seine Frauengeschichten. Es sind keine Skandale gewesen. Sie konnten ihm nichts anhaben.

Er moderiert die „Tagesthemen“ jetzt länger als sein Vorgänger Hanns Joachim Friedrichs. Das Land hat sich an ihn gewöhnt. Er ist der Anchorman der Nation. Er ist ein guter Nachrichtensprecher. Aber er verspricht sich jetzt öfter. Manchmal scheint es, als rede er langsamer. Vielleicht ist er müde. Jeder brennt irgendwann aus. Warum erst 2006? Warum hört er nicht sofort auf?

„Wirke ich ausgebrannt?“, antwortet Wickert schreckhaft, er lacht, wirft die Arme hoch. Man muss aufpassen, dass man ihn nicht beleidigt. „Ich werde meinen Vertrag auf jeden Fall erfüllen“, wiederholt er. „Der Job ist noch genau so spannend wie in meiner ersten Sendung.“ Er redet weiter. Von anderen Dingen. Auf dem Monitor gestikuliert die aufgescheuchte Ministerin. Wickerts Handy klingelt. Man kriegt nicht mehr aus ihm raus. Was er nach dem Abgang bei den „Tagesthemen“ machen wird, weiß er noch nicht genau. Er will einen zweiten Krimi schreiben. Er sieht nicht so aus, als ob er Angst vor der Zukunft hat. Er sagt: „Ich werde nicht aufhören, etwas zu tun.“

Vor den Fenstern hängt Nieselregen, die Sekretärin kocht Tee, Ulrich Wickert verschwindet in irgendeine neue Konferenz. Der NDR fällt in die Betriebsamkeit eines öffentlich-rechtlichen Nachmittags. Vielleicht war es genau das, was er wollte. Ein bisschen Wind. Ein bisschen Aufsehen. Vielleicht war ihm langweilig. Er hat mit ein paar Journalisten geredet. Jetzt sprechen alle über ihn.