„Genossen, stimmt mit Ja!“

Die Zustimmung der Polen zum EU-Beitritt scheint sicher – glaubt man den Umfragen. Doch die letzten Wahlen zeigten: Die Wähler sind unberechenbar

Die EU-Gegner fahren sogar Stalin auf. Auf ihren Plakaten stimmt der Diktator für den BeitrittProminenz soll die Polen überzeugen. Letzte Woche Blair und Prodi, gestern war Schröder da

aus Warschau GABRIELE LESSER

Selbst die letzten Getreuen des Realsozialismus sollen dabei sein. „Genossen, stimmt mit Ja“, fordert General Wojciech Jaruzelski seine Anhänger aus der jüngsten polnischen Vergangenheit auf. „Stimmt mit Ja“, lässt sich auch der greise polnische Papst aus Rom vernehmen. Und auch der berühmte Arbeiterheld der Freiheitsbewegung Solidarność, Lech Wałęsa, der sich in die Hafenstadt Danzig (Gdańsk) zurückgezogen hat, ruft seine Landsleute auf: „Stimmt mit Ja.“

Am kommenden Samstag und Sonntag stimmen rund 29 Millionen wahlberechtigte Polen über den Beitritt ihres Landes zur EU ab. Die Krakauer katholische Wochenzeitung Tygodnik Powszechny hat sogar ausgerechnet, dass die Polen genau 28 Stunden Zeit haben werden, um über „unsere Chance“ zu entscheiden. Doch je näher der viel beschworene Termin rückt, umso unruhiger werden Politiker, Intellektuelle, Geistliche und Unternehmer. „Was tun, wenn es schief geht? Wenn die Polen nicht zum Referendum gehen? Oder wenn sie gar – Gott behüte! – mit Nein stimmen?“ In Fernsehtalkshows und Radiointerviews werden Schrecksszenarien entworfen, die hartgesottene EU-Gegner das Fürchten lehren sollen: „Die ausländischen Investoren verlassen Polen mitsamt ihrem Geld, die Warschauer Börse geht Pleite, die bisherigen EU-Gelder zur Vorbereitung auf den Beitritt Polens müssen zurückgezahlt werden, ein polnischer Lukaschenko kommt an die Macht.“ Doch die EU-Gegner lassen sich davon nicht beeindrucken. Sie kontern mit Angst einflößenden Plakaten: „Jeder Pole erhält nach dem Beitritt zur EU einen Mercedes – zum Waschen“, steht auf einem, das dem Nazistil nachempfunden ist und an die Zwangsarbeit im Dritten Reich erinnert, auf einem anderen wirft Stalin seinen Wahlzettel – ein deutlich sichtbares Ja – in die Urne, ein drittes zeigt einen in die europäische Fahne gehüllten Sensenmann, der Polen so schnell wie möglich ins Jenseits befördern will.

Zwar sind seit einigen Wochen die Umfragewerte stabil bei über 60 Prozent Zustimmung zum EU-Beitritt, doch die letzten Wahlen vor zwei Jahren haben gezeigt, dass diesen Zahlen kaum zu trauen ist. So war es für alle eine große Überraschung, dass der radikale Bauernführer Andrzej Lepper mit seiner rechtspopulistischen Randalepartei „Samoobrona“ (Selbstverteidigung) zur drittstärksten Kraft im Abgeordnetenhaus aufstieg. Oder dass die rechtsradikale Liga der polnischen Familien (LPR) aus dem Stand 38 Sitze ergattern konnte, während die früheren Regierungsparteien Freiheitsunion (UW) und Wahlaktion Solidarność (AWS) überhaupt nicht mehr im polnischen Parlament, dem Sejm, vertreten waren.

Die größte Sorge ist längst, dass die Polen zu Hause bleiben werden. Gestern zeigte Polens größte Tageszeitung Gazeta Wyborcza einen elendiglich müden Polen, der mit geschlossenen Augen und lang hingestreckt auf einem Sessel einen Pfeil auf die Zielscheibe „Europäische Union“ wirft, womöglich aber kurz vor dem Wurf endgültig einschläft. Für diesen Fall des Falles haben die Parlamentarier bereits vorgesorgt: Sollten am 7. und 8. Juni tatsächlich weniger als fünfzig Prozent der Wahlberechtigten zu den Urnen gehen und das Referendum damit ungültig sein, könnten die Abgeordneten in die Bresche springen.

Nach einer Frist von sieben Tagen könnten sie als gewählte Volksvertreter über das Referendum abstimmen. Bislang war dies als eine Art Notlösung angesehen worden, die das Schlimmste verhindern könnte. Doch nun hat Jarosław Kaczyński, der Vorsitzende der konservativen und eher EU-skeptischen Partei „Recht und Gerechtigkeit“, erklärt, dass seine Partei keineswegs entschieden sei, mit Ja zu stimmen, falls sich die Polen als abstimmungsmüde erwiesen. Wenn das Volk es vorziehe, beim Referendum zu Hause zu bleiben, sei das als Nein zu werten.

Die letzten Unentschlossenen sollen durch Prominenz überzeugt werden. Seit Wochen geben sich in Polen Staatshäupter und Regierungschefs aller großen EU-Staaten die Klinke in die Hand. Allein letzte Woche waren der Brite Tony Blair, der Däne Anders Fogh Rasmussen, der EU-Erweiterungskommissar Günter Verheugen, der Präsident der Europäischen Kommission Romano Prodi auf EU-Werbetour in Polen unterwegs. Gestern hat Bundeskanzler Gerhard Schröder in Lodz, der zweitgrößten Stadt Polens, die Werbetrommel für den EU-Beitritt gerührt. Die Polen haben schon Angst, den Kühlschrank zu öffnen. Womöglich rufen ihnen dann auch die Tomaten zu: „Ja zur Europäischen Union!“