Unglaubliches von Drais’ Draisine

Wer das Rad erfunden hat? Ein umfangreiches Buch versucht zu erklären, wie die Menschheit zumindest aufs Zweirad kam. Auch wenn es anfangs nur ein Laufrad war – seinem Konstrukteur sei noch viel mehr zu verdanken. Eigentlich alles

Drais hat das Zweiradprinzip an sich geschaffen, das zuvor völlig unbekannt war

VON HELMUT DACHALE

Wer war Karl Drais? Der Brockhaus meint: kein besonders Wichtiger. Selbst die 24-bändige Ausgabe gönnt ihm und seinen Taten lediglich ein paar Zeilen: Erfinder, 1785 geboren, unter anderem konstruierte er die Draisine, und diese „ist als Urform des Fahrrads anzusehen“. Für Hans-Erhard Lessing sicherlich ein vollkommen ungenügender Eintrag. Der Physikprofessor außer Diensten ist Deutschlands führender Draisologe. Und gäbe es einen Drais-Fanclub, er wäre sicherlich erster Vorsitzender.

Seit Jahren singt Lessing das Hohe Lied auf „den badischen Edison“, der für den „Urknall der individuellen Mobilität“ gesorgt habe. Die frohe Botschaft von einer Art Schöpfer irgendeines Universums. Lessing hat sie jetzt zu einem Buch von gut 500 Seiten aufgepeppt („Automobilität – Karl Drais und die unglaublichen Anfänge“). Eine Fleißarbeit, keine Frage. Eine Fülle von Material und auch eine Menge Fakten. Doch was das Buch so skurril, womöglich gerade deshalb so lesenswert macht, ist die konsequente Küblböckisierung einer relativ unbekannten Größe der Technikgeschichte. Drais, erfahren wir jetzt, war verantwortlich für eine „Erfindung, welche die Welt verändern sollte“. Er hat „das Zweiradprinzip an sich“ geschaffen, „das zuvor völlig unbekannt war“. Drais sei Dank! Schließlich haben wir ihm nicht nur den Vorläufer des Fahrrads zu verdanken, er hat auch noch gleich die Basis gelegt für Motorrad, Automobil und Flugzeug. Und dabei war das Genie auch noch politisch verfolgt!

Wer war Drais nun wirklich? Ein Freiherr aus dem Beamtenadel, Drais von Sauerbronn. Er besuchte eine Forstschule, arbeitete nur kurze Zeit in diesem Metier und kam 1811 – mit 26 Jahren – in den Genuss eines Frührentner- Daseins. Bei vollen Bezügen beurlaubt konnte er sich dem Tüfteln zuwenden. Von all dem, was er sich so ausdachte, erregte sein Laufrad die größte Aufmerksamkeit. Nur zwei Räder! In einer Spur! Wie man damit klar kam, demonstrierte Drais erstmalig mit einem Ausritt im Juni 1817: knapp 15 Kilometer in etwa einer Stunde. „Da muss sich der Hollandradfahrer von heute ranhalten, wenn er diesen Schnitt wieder einstellen will!“, prahlt sein Biograf. Viele damalige Zeitgenossen reagierten skeptisch, andere waren begeistert, wagten das Abenteuer auf dem seltsamen Ding, das bald Draisine oder Hobbyhorse hieß. Pedalkurbeln waren dieser Mobilitätshilfe noch fremd, man saß auf einem Zwischenbrett, stieß und stützte sich wechselseitig mit den Füßen ab. 1818 wurde seiner Innovation ein badisches Patent bewilligt und Drais zum Professor der Mechanik ernannt. Doch der Laufrad-Hype verflüchtigte sich schnell. Erst nach fast fünfzig Jahren sollte das Zweirad in anderer Form auferstehen. Jetzt allerdings mit Kurbeln, die zuerst noch an der Achse des Vorderrads festgeschraubt wurden. Bahnbrechende Entwicklungen, mit denen Drais, 1851 verstorben, nichts mehr zu tun hatte.

Hat er wenigstens als Erster bewiesen, dass gefahrloses Rollen nicht nur auf vier Rädern funktioniert, sondern auch auf zwei hintereinander angeordneten? Laut Lessing ist genau das die historische Leistung des Freiherrn – und kurioserweise stellt er sie selbst in Frage. Er erwähnt, dass bereits Ende des 18. Jahrhunderts Rollschuhe bekannt waren, Inliner mit zwei Rädern, ein Rad hinter dem anderen. Sie waren kleiner als die des Karlsruhers, logisch, und hatten natürlich auch keine Lenkung. Wegen dieser Dinger Drais’ Einmaligkeit in Frage stellen? Für Lessing offensichtlich ein Gedanke, der an Gotteslästerung grenzt.

Seine Fixierung auf Drais führt zu einem ungewöhnlichen Ranking: Carl Benz oder Gottlieb Daimler werden auf die hinteren Plätze verwiesen. Drais und Draisine waren halt eher da – ätsch! Sicherlich, als man begann, mit Motoren zu experimentierten, um die individuelle Mobilität zu beschleunigen, fiel der Blick der Konstrukteure nicht nur auf die pferdegezogenen Kutschen. Auch auf die muskelbetriebenen Zwei- und Dreiräder. Und von denen übernahmen sie dann Ketten und Riemen zur Kraftübertragung, Stahlspeichenräder und auch Teile des Rohrrahmens. Die frühen Zulieferer für die ersten Motorfahrzeuge: Fahrradwerke. Doch daraus ableiten, Drais habe auch das Auto angeschoben? Lessing tut’s und verkennt, wie der Einbau eines Motors in ein vorher wie auch immer geartetes Vehikel ein vollkommen neues Produkt entstehen ließ.

So richtig geht dem Techniker die Draisine durch, wenn er sich dem Politischen und Menschlichen zuwendet. So werden Drais’ Verwicklungen in Kneipenschlägereien als politische Verfolgung gewertet, und mit seinem (äußerst kurzfristigen) Verzicht auf seine Adelsvorrechte habe sich der Freiherr „unerschrocken als Demokrat geoutet“. Was indes bis dato kaum jemand gewusst habe. Vor allem nicht die „68er-Autoren“, denen bekanntlich noch nie was heilig war und die „aus ideologischen Gründen meinten, in Drais den Adelsmann verhöhnen zu müssen“. Drais’ Alkoholismus hingegen erwähnt der Autor nur beiläufig. Als wär’s ihm peinlich. Was soll’s: Ob Karl Drais Trinker war oder nicht, ob er zu seinem Großherzog stand oder die Demokratie wollte – er ist und bleibt der Mann, der das Laufrad ohne Tretkurbeln erfunden hat. Damit hat er einige seiner Zeitgenossen in Bewegung gebracht – nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Hans-Erhard Lessing: „Automobilität – Karl Drais und die unglaublichen Anfänge“. Maxime Verlag Maxi Kutschera, Leipzig 2003, 527 Seiten, 32 €