Traditionen aufwecken

Musik von alten Spielleuten, chassidische Traditionen, eine Renaissance-Fiedel und eine indische Dhol-Trommel: Die Warsaw Village Band stellt im Rahmen des Karnevals der Kulturen ihren archaischen und zeitgemäßen Folk vor

Die Folklore aus der Hohen Tatra und die jiddische Musik aus den Schtetls von Krakau – viel mehr Traditionelles drang von unserem östlichen Nachbarn bislang nicht an unser Ohr. Aus dem geografischen Herzen Polens melden sich nun jedoch sechs junge Leute, die eine neue Qualität in vergessene Klangwelten tragen.

„Wir sind eine von ganz wenigen polnischen Gruppen, die mit ihren Wurzeln experimentieren“, beteuert der Geiger der Warsaw Village Band, Wojciech Szpak. „Viel ist vom Folk nicht übrig geblieben, 50 Jahre Kommunismus haben die orale Tradition völlig abgeschnitten, nur die ganz Alten kennen noch die Volkslieder. Und unsere Musik ist nun ein Angebot an junge Leute, sie wiederzuentdecken.“ Natürlich dominiert wie in vielen ehemaligen Ostblockstaaten auch in Polen die Imitation angloamerikanischer Klangware die Charts. Eine „Rebellion der Jugend gegen den Vormarsch des Plastikpop“ sei die Musik der sechs jungen Warschauer, verkündet ihr Produzent Włodek Kleszcz. Er saß 1998 fürs polnische Radio in der Jury des „New Tradition-Wettbewerbs und votete für die Jugendband, die dann den ersten Preis einheimste und mit Unterstützung des Kulturministeriums ein Album aufnehmen konnte.

„Das war damals eine ungeheure Provokation, erinnert sich Kleszcz. „Leute aus der großen Stadt Warschau, die versuchten, traditionelle Musik aus der Region Warsowia zu spielen.“ Einige der Mitglieder haben zwar eine musikakademische Ausbildung und vertieften sich während des Studiums in alte Noten. Aber das wirklich Außergewöhnliche ist wohl, dass sie aus freien Stücken heraus ausscherten, um nach ihren Roots zu graben, den Kontakt zu alten Spielleuten zu suchen. In die Wälder gottverlassener Gegenden der Region Warsowias zog es sie, dort, wo noch fantastische Instrumentalisten die Folklore der präkommunistischen Ära pflegen. Eine letzte Chance, die nun aussterbende Musik der jungen Generation zu vermitteln. Dazu bedarf es allerdings mehr als Traditionalismus, es bedarf eines eigenen Stils, der Zeitgemäßes einfließen lässt. „Die Musik aus Warsowia ist einfach aufgebaut und hat große Parallelen zur Sufi-Musik oder zur chassidischen Tradition, die es ja auch unter den polnischen Juden gab“, so Szpak.

„Eine trancehafte Komponente ist hier immer deutlich spürbar.“ Und die bauten die jungen Musiker aus. Drei Geigen, Cello, eine schon in Vergessenheit geratene Renaissance-Fiedel, kombiniert mit dem attackierenden Schlag diverser Percussioninstrumente, unter die sich als Exotikum die Dhol-Trommel aus dem Pandschab mischt.

Markenzeichen Nummer eins der „Dörfler aus Warschau“ ist aber zweifelsohne der schneidende, haarsträubende Gesang von Katarzyna Szurman. „Weiße Stimme“ nennen sie diesen Vokalstil, es ist fast ein Schreien, ursprünglich, klar und wild. Dass dies alles recht ernst und traurig tönt, liegt an gezielter Repertoire-Auswahl. „Lustige Lieder haben leider fast immer dumme Texte“, meint Szpak. „Uns interessiert aber der Mystizismus, die tiefe und nachdenkliche Seite der Volksmusik. Nimm zum Beispiel den Song ‚The Cranes‘, da heißt es: ‚Kinder, kommt nach hause, seid nicht die Sklaven von irgendjemand.‘ Das hat doch eine ganz aktuelle Aussage.“ Aktuell sind auch die Bonus-Tracks auf der neuen CD „People’s spring“ (Jaro Medien). Denn hier haben sich zwei prominente Techno-DJs aus Polen an neuen Abmischungen des archaischen Folks versucht. STEFAN FRANZEN

Morgen, Sonntag, 22 Uhr, im Rahmen des Karnevals der Kulturen, Bühne „Grüne Wiese“, Blücherplatz, Kreuzberg