Ein Ort der Lust

Freizeitwerte in der großen Stadt (Teil 1): Amerikas Jugend liebte es, weil es die Vorstadt vergessen ließ. Wir lieben es, weil es uns an Amerikas Jugend erinnert. Ein Besuch im ersten Berliner Autokino

von PATRICK BATARILO

Erzählen Sie mal jemandem, dass Sie mit einem Freund ins Autokino gehen. Wenn man sich auch damit rechtfertigt, dass man einen Artikel schreiben soll. Und wenn man auch nichts dafür kann, dass Freund Martin der einzige im Bekanntenkreis ist, der über ein Auto verfügt. Die Assoziationsmaschine setzt ein. Der Mythos Autokino überfliegt den Atlantik und wird in den Köpfen aufgerufen: Freunde zwinkern vieldeutig mit den Augen. Und die eigene Freundin beschwert sich.

Ja, auch in Berlin gibt es seit kurzem ein Autokino. Das Superhelden-Adventure „X-Men 2“ läuft. Mainstream also. Wie es sich gehört, befindet sich das Autokino, dieses Kind der Vorstädte, in der Peripherie. Am Zentralen Festplatz Berlin. Als wir ankommen, ist es noch früh, gerade mal neun. Unser dunkelblauer Saab ist ein lässiges Gefährt. Wir müssen uns nicht schämen. Leider ist das Autoradio geklaut worden. Da der Ton im Autokino über UKW übertragen wird, hat Martin ein tragbares Radio mitgebracht. Der Kartenverkäufer wirft einen erstaunten Blick darauf. Der Platz um uns ist riesig, er könnte auch als Landebahn des Tegeler Flughafens taugen, dessen Tower über den Wipfeln am Westrand zu sehen ist.

Das Autokino drückt sich verschämt in eine Ecke. Die 10 mal 20 Meter große Leinwand steht in schrägem Winkel zu einer Anfahrt, um möglichen Zaungästen den Blick zu versperren. Ihr gegenüber, in etwa 100 Meter Entfernung: ein gelber Bauwagen. In dem Bauwagen der Projektor. Daneben zwei Dixi-Klos. All das sieht noch sehr trostlos aus. Martin seufzt, weil der Platz so groß ist und er kein Frisbee dabei hat. Ich denke über den Mythos Autokino nach. Zur Vorbereitung habe ich noch einmal „American Graffiti“ von George Lucas gesehen. Da kommt gar kein Autokino vor, trotzdem denkt man an den Film: die amerikanische Jugendkultur der Fünfzigerjahre, das ist das Leben als Drive-in. Eine ganze Generation von Teenagern, denen Amerikas spießige Vorstädte einst einen eigenen Lebensstil verweigerten, schuf sich in ihren Autos einen neuen Lebensraum. Und schon ein Tritt auf die Bremse macht aus dem chromglänzenden Statussymbol einen Lustort.

Und hier? Einige Mitteklassewagen sind inzwischen vorgefahren. Sie werden eingewiesen mit den schönen Worten: „Suchen Sie nach der zweiten Reihe!“. Die Kofferräume werden geöffnet, Decken und Kissen, Bierdosen und McDonald’s-Tüten wandern nach vorn. Ich gehe zwischen den parkenden Autos spazieren. Ein junger Typ mit Hund erklärt dem Vorführer, dass es in München auch ein Autokino gebe. Allerdings sei es besser: Die Leinwand sei größer und die Parkfläche schräg abgesenkt. Der Hundebesitzer hat Ich-AG-Potenzial. Spontan entwickelt er Vorschläge für eine verbesserte Konzeption: ein Käppi für den Vorführer, ein Pizza-Service, der Bestellungen entgegennimmt. Der Vorführer, nur ein Angestellter, nickt ergeben.

Um auch etwas zu sagen, kolportiere ich eine Information, die ich aus dem Internet habe: dass die Autokinos Amerikas in den Sechzigerjahren deswegen eine Pleitewelle erlebt haben, weil die Autoindustrie die durchgehende Vorderbank und die Lenkradschaltung abschuf. Das Kino taugte fortan nur noch bedingt als Ort der Lust. Der junge Typ nickt interessiert und weist daraufhin, dass er seinen Hund nur ins Autokino mitnehmen könne. Inzwischen steht eine lange Reihe von Autos mit laufendem Motor auf der Zufahrt. Es stinkt nach Abgasen. Doch die einbrechende Dunkelheit hat das Ambiente verändert: Die Trostlosigkeit des großen Platzes hat einer Art Campingintimität Platz gemacht. Grüppchen haben sich gebildet. Jemand raucht einen Joint. Einige Pärchen erkunden die Peripherie des Geländes. Zwei Mädchen stellen sich in die Schlange vor den Dixi-Klos. Auf einmal brechen sie kichernd aus der Reihe aus und laufen auf die Bäume am Rand des Platzes zu.

Ich drehe noch eine letzte Runde. Unter der Leinwand bleibe ich stehen und blicke auf die inzwischen auf 12 Reihen angewachsene Automenge. Lauter kleine Blechmonaden. Ich denke an die „Klavierspielerin“, den Film von Michael Haneke: Eine Frau geht ins Autokino, kauert sich neben ein Auto, in dem ein Pärchen zur Sache geht, und beginnt zu pissen. Der europäische Film meint es nicht gut mit den Autokinos. Auf dem Weg zurück stelle ich fest, dass die lover’s lane, die letzte Reihe noch hinter dem Wohnwagen, von zwei blauen Vans besetzt ist. In dem einen wird gekocht, mit Herdplatte, Kochtopf und Kochlöffel. In dem anderen brennt eine Kerze.

Auf einmal erlischt die Beleuchtung des Wohnwagens, und der Projektor schaltet sich ein. Mit Mühe finde ich den Weg zum Auto zurück. Ich stelle fest, daß wir sehr schlecht geparkt haben. Vor uns klafft eine Lücke. Dafür parkt das Auto neben uns so dicht, dass ich kaum die Tür aufkriege. Martin hat Mühe, den Sender zu finden. Wir müssen das Licht anstellen. Schließlich stimmt alles. Das Radio wird nach hinten gestellt, der Ton ist etwas scheppernd und kommt von schräg links. Das erste, was mir auffällt am Film: Die Scheibe ist nicht sauber. Martin widerspricht heftig. Der Zauber Autokino will sich noch nicht so recht einstellen. Der Illusionsraum fehlt: die Leinwand konkurriert mit dem Horizont, und das Bild ist so getrennt vom Ton, dass man zunächst den Eindruck hat, einen Stummfilm zu sehen.

Ich stelle den Sitz zurück. Wir rauchen und unterhalten uns. Durch das offenen Fenster dringt die Nachtluft. Ich ziehe die Hand zurück. Der Film läuft. Im Grunde ist es wie Fernsehen plus Ausflugsstimmung. Einmal tönt eine Hupe. Ein Rücklicht blinkt auf.

Das Autokino Berlin befindet sich am Zentralen Festplatz, Kurt-Schumacher-Damm 207. Zur Zeit läuft dort der Film „X-Men 2“, täglich 22 und 24 Uhr