Wechselseitige Lernprozesse

Einerseits kritisieren die neuen sozialen Bewegungen die bürokratisch-zentralistischen Gewerkschaften, andererseits arbeiten sie weiter mit diesen zusammen. Das ist richtig

Gewerkschaft braucht keine „organischen Intellektuellen“, sondern kritische, intervenierende Wegbegleiter

Wo Gewerkschaften ins Bild kommen, bestimmen in weiten Teilen der alternativen, ja selbst der linken Intelligenz Stereotype die Szenerie. Die Gewerkschaftsführungen gelten als Fleisch gewordener Immobilismus. Das „Lasst es einfach sein“ des DGB-Vorsitzenden Sommer bei seiner Ansprache anlässlich der Demonstration gegen den Sozialabbau am 3. April wird als letzter Beweis dafür genommen, dass es den Gewerkschaften vollständig an tragfähigen Alternativvorschlägen zur Agenda 2010 gebricht.

Einstmals hatte sich die Kritik linker Intellektueller am Gegensatz zwischen gewerkschaftlicher Führung und Basis entzündet, war den „Bonzen“ vorgeworfen worden, jede kämpferische Initiative von unten zu ersticken oder in sozialpartnerschaftliche Bahnen zu lenken. Heute trifft das Verdikt einer sich als kritisch verstehenden Öffentlichkeit die gewerkschaftlich organisierte Arbeiterschaft in toto. Zur politischen Ablehnung der „Besitzstandswahrer“ gesellt sich eine kulturelle Abgrenzung, ja Fremdheit und ein moralisches Verdikt. Das ist die Barriere, die die Verständigung blockiert.

Aber rechtfertigen nicht gerade die Auseinandersetzungen zwischen Gewerkschaften und sozialen Bewegungen wie „Attac“ im Vorfeld der Demos vom 3. April solche Urteile? Haben die Gewerkschaftsführungen nicht alles versucht, um vom Rederecht auf den Kundgebungen, der Festlegung der „Kulturprogramme“, der Frage, „Wer führt?“ bei den Demos, bis zur Bestimmung der Marschrouten alles getan, um zu kontrollieren, zu kanalisieren? Um das Bild einer bürokratisch-zentralistischen und dabei unpolitischen gewerkschaftlichen Mobilisierung zu bestätigen? Das Info von Attac an seine Mitglieder zur Kooperation mit dem DGB im Vorfeld der Aktion listet all diese Beschwernisse auf. Attac hat sich von ihnen nicht abschrecken lassen. Das war ein richtiger Entscheid.

Warum? Weil sich Attac nicht mit dem Abziehbild des DGB begnügt, sondern einen etwas genaueren Blick auf die Entwicklungsprozesse innerhalb der Gewerkschaften geworfen hat. Genauer: auf die Krise der deutschen Gewerkschaftsbewegung. Eigentlich sind die Symptome dieser Krise bekannt. Objektiv: Die traditionell von männlichen, in industriellen Großbetrieben organisierten Facharbeitern getragenen Gewerkschaften erleiden einen dramatischen Bedeutungsverlust, weil das Gewicht dieser Betriebe abnimmt. Sie geraten in die Zange einer sich internationalisierenden Produktion einerseits, einer Zersplitterung des einheimischen Produktionsprozesses andererseits.

Subjektiv: Weil es den Gewerkschaften nicht gelingt, in den traditionellen wie den neu entstandenen Zweigen der Produktion und Dienstleistung die Lohnabhängigen an sich zu binden. Sie schaffen es an drei Fronten nicht: bei den Frauen, bei den Jungen und bei den Hochqualifizierten, für die der Beitritt zu den Gewerkschaften nicht eine Frage von „Identität des Arbeiterschicksals“, sondern von „rational choice“ des Individualisten darstellt. Sind die Gewerkschaften stark, so reicht es, Trittbrett zu fahren, sind sie schwach, verlohnt sich die Mitgliedschaft nicht mehr.

Diese Krise erschüttert nicht nur, sie eröffnet auch Chancen. In den Einzelgewerkschaften laufen kontroverse Selbstverständigungsprozesse, die geeignet sind, das überkommene Selbstbild in Frage zu stellen. Die hierbei auftretenden Gegensätze gruppieren sich um das Widerspruchspaar „Kerngeschäft versus Ausweitung und Neuorientierung“. Oder auch: Können die Gewerkschaften zum Teil einer sich neu bildenden „zivilgesellschaftlichen“ Bewegung werden, die über Deutschland, ja über Europa hinaus die globalen Ausbeutungs- und Abhängigkeitsverhältnisse in den Blick nimmt?

Die nahe liegende Antwort, ein „Sowohl als auch“, wirft politische und organisatorische Probleme auf. Denn die Gewerkschaften müssen an der zentralen Achse, dem Lohnarbeitsverhältnis, weiterarbeiten, das ist ihr spezifischer Beitrag, um der Unterwerfung der Beschäftigten unter das Diktat der je betrieblichen Unternehmerinteressen kollektiv entgegenzutreten. Aber der Rahmen dieser Auseinandersetzung ist nach wie vor nationalstaatlich bestimmt. So dass unter dem Signum der Standortkonkurrenz ein vergeblicher Kampf um die Sicherung der Arbeitsplätze entbrennt. Es wird Verzicht geübt, immer mehr Rechtspositionen werden geräumt, immer mehr soziale Errungenschaften preisgegeben. Aber der einzige Effekt wird in nationalistischen und rassistischen Ressentiments bestehen.

Aber auch die Gegenposition artikuliert sich. Sie behauptet, dass gerade das Kerngeschäft sich nur in dem Maße erfolgreich betreiben lässt, wie auch von Seiten der Gewerkschaften die Zugbrücke heruntergelassen wird. Enge Beziehungen nicht nur zu den Führungen, sondern auch zu den „einfachen“ Aktivisten der Gewerkschaftsbewegung in der armen Welt, gemeinsame Beratung, gemeinsame Aktionen.

Hinter diesen Positionen steht nicht abstraktes Moralisieren, sondern die Erkenntnis, dass den eigenen Interessen am Besten dadurch genutzt wird, dass die Kampfpositionen der ArbeiterInnen in der armen Welt gestärkt werden. Die internationalen Sozialforen haben sich für diese Verständigungsarbeit bereits jetzt als nützlich erwiesen. Nicht so sehr in ihren Beschlüssen, sondern, weil sie gerade bei jungen Gewerkschaftern sinnliche Erfahrung produzierten, an denen sich späteres Handeln orientiert.

Im Verhältnis zu den einheimischen Bürgerbewegungen wird nach Organisationsformen über den Betrieb hinaus gesucht, also eine Lebenswirklichkeit einbezogen, die oft nicht mehr durchs betriebliche Kollektiv geprägt ist. Man will die Zusammenarbeit im Stadtteil stärken, wie sonst könnten die „Insider“, die noch Arbeit haben, mit den „Outsidern“, vor allem den Langzeitarbeitslosen, zusammenkommen. Kulturelle Schranken, zum Bespiel gegenüber Schwulen-Initiativen sollen niedergerissen werden, wie überhaupt, aus dem angelsächsischen Bereich herüberschwappend, das Bündnis mit Antidiskriminierungsgruppen gesucht wird.

Ablehnung der „Besitzstandswahrer“ und kulturelle Abgrenzung sind die Barrieren, die Verständigung blockieren

Organisatorisch wird dafür plädiert, die Befugnisse der Ortsverwaltungen zu stärken und die Strukturen hierarchischer Anweisung aufzulockern, ohne gleich das ganze organisatorische Gefüge ins Nirgendwo aufzulösen. Wie diese Auseinandersetzung ausgehen wird, ob der DGB auf dem Weg der Selbstständigkeit fortfahren wird, ob er sich nach der voraussehbaren Niederlage von Rot-Grün 2006 wieder mit der SPD ins Bettchen legen wird – das sind offene Fragen.

Die linke und liberale Intelligenz steht hier vor einer einfachen Wahl: entweder sich in diesen gewerkschaftlichen Selbstfindungsprozess einzumischen, oder Stereotype pflegen. Nicht der „organische Intellektuelle“ der Gewerkschaftsbewegung soll herbeigezaubert werden, sondern der kritische, intervenierende Wegbegleiter ist gefragt. Gerade jetzt ist ein günstiger Moment, seine Wahl zu treffen.

CHRISTIAN SEMLER