Im Schutz der Heilerin

„Hass, Waffen und Drogen haben Menschen zu Bestien gemacht“„Bunia wird dierelativ friedlicheHauptstadt einerzerstörten Provinz“

aus Bunia ILONA EVELEENS

„Paff, paff!“, rufen die Kinder, während sie mit ihren Spielzeuggewehren aus Holz aufeinander zielen. Sie spielen zwischen zertrampelten Pflanzen in einem Garten halb so groß wie ein Fußballplatz. Darin steht ein kleines Haus aus Stein, außerdem hier und da Rundhütten aus Lehm mit Strohdächern. Einige Menschen hocken zusammen vor den Hütten. „Es ist noch nicht so lange her, da bastelten unsere Kinder Spielzeugautos und -flugzeuge“, sagt Hausbesitzerin Albertine. „Seit den Kämpfen im Mai scheinen sich selbst die Allerkleinsten nur noch für Waffen zu interessieren. Ich frage mich, wie die Kleinen später mit ihren Eindrücken fertig werden.“

Die kleine 46-jährige Frau hat einen Pullover angezogen. Regen hat das sonst warme Wetter vorübergehend abgekühlt. Albertine hat während den Kämpfen zwischen Milizen der Hema- und Lendu-Volksgruppen in der ersten Maihälfte mehr als 150 Flüchtlinge aufgenommen. Viele sind inzwischen nach Hause zurückgekehrt oder weitergezogen. Noch ungefähr 40 nutzen ihre Gastfreundschaft. „Man konnte sich im Haus oder im Garten kaum bewegen“, erinnerte sie sich. Überall schliefen Leute. Selbst die Küche wurde abends in ein Schlafzimmer verwandelt.“

Albertine (Name von der Redaktion geändert) ist angesehen in Bunia. Sie ist eine traditionelle Heilerin und weiß sehr viel über die medizinische Nutzung der Pflanzen im grünen, hügeligen Distrikt Ituri. Es war schrecklich für sie, als die Flüchtlinge in ihrem Garten zwei dicke Bäume zu Brennholz machten. Aber, sagt sie, „es war nötig. Die Menschen mussten doch etwas haben, worauf sie kochen konnten, auch wenn es zu wenig zu essen gab.“

Die Kämpfe in Bunia sind seit drei Wochen abgeflaut, doch Albertine traut sich immer noch nicht auf die Straße. Denn während der Kämpfe bot sie sowohl Hema wie auch Lendu Schutz. Die Hema-dominierte „Union kongolesischer Patrioten“ (UPC), die Bunia heute beherrscht, ist davon nicht begeistert: Sie verdächtigt die Lendu pauschal, einen Völkermord an den Hema zu wollen.

„Wir haben einander geschützt“, erzählt Albertine. „Wenn die Hema-Milizen am Tor standen, gingen die Hema-Flüchtlinge hinaus und sagten, dass es auf dem Gelände keine Lendu gebe. Wenn die Lendu-Krieger kamen, gingen die Lendu und sagten: Ihr denkt doch nicht, dass ich hier wäre, wenn es hier Hema gäbe?“

Albertine ist selbst weder Hema noch Lendu. Sie gehört zum kleinen Volk der Budu, das in einem anderen Teil des Nordostens der Demokratischen Republik Kongo beheimatet ist. Aber sie ist in Bunia aufgewachsen. „Mein Vater war Krankenpfleger und wurde hierher versetzt. Bunia war immer ein guter Ort, um zu leben. Selten gab es zu wenig zu essen, und es war friedlich“. Sie legt den Kopf in ihre Hände und schaut traurig vor sich hin. „Was ist nur aus uns geworden? Wir sind in der Zeit zurückgegangen. Die Geschichten über Kannibalismus und Körperteile, die von den Milizenkämpfern als Trophäen mitgenommen werden – das ist doch grausam. Hass und die Leichtigkeit, sich Waffen, Alkohol und Drogen zu besorgen, haben Menschen zu Bestien gemacht. Nicht die normalen Bürger. Nur die Milizen.“

Hema und Lendu haben Jahrhunderte in Ituri friedlich mit- und nebeneinander gelebt. Es gab zwar politische Streitereien, aber bis 1999 keine blutigen Exzesse. Marie, eine Flüchtlingsfrau, die in Albertines Garten gerade Geschirr spült, erinnert sich gut daran. Die Hema-Frau, mit einem kleinen hölzernen Kruzifix um den Hals, ist mit einem Lendu verheiratet. Ihre Kinder gelten deshalb als Lendu. Aber eigentlich können sie sich nicht mit nur einer Ethnie identifizieren.

Als die Massaker in der Stadt begannen, suchte daher die ganze Familie Schutz bei Albertine. Aber auch da fühlten sie sich nicht sicher. „Eines Tages kam ein Onkel von mir und verlangte, dass mein Mann mit ihm geht und sich den Milizen anschließt“, berichtet Marie. „Wie konnte er? Schließlich sind wir alle eine Familie. Wir bekamen so viel Angst, dass mein Mann sich entschloss, mit den Kindern fortzugehen. Ich weiß nicht, wo sie sind. Ich kann nur hoffen, es geht ihnen gut.“

Die Gefühle überwältigen Marie. Abrupt hört sie mit dem Geschirrspülen auf und setzt sich allein in eine Ecke des Gartens. Albertine flüstert: „Wenn die ausländischen Truppen hier wirklich Frieden gebracht haben, brauchen wir Psychiater. Wir haben alle einen Knall bekommen.“

Von den einst 300.000 Einwohnern Bunias ist nur der kleinere Teil noch da. Tausende, die geflohen sind, trauen sich noch nicht heim. Obwohl die Zurückgebliebenen versuchen, das normale Leben wieder in Griff zu bekommen, sind die breiten holprigen Straßen der Stadt noch sehr leer. Die meisten Leute scheinen in Eile zu sein. Jeder hat sich einen schnellen Lauf angewohnt. Aber in Häusern ist ab und zu ist Musik und sogar Gelächter zu hören.

Nicht weit von Albertines Grundstück befindet sich das Wohnhaus der „Weißen Väter“, die katholische Mission. Auch ihr Garten war während der Kämpfe mit über 100 Menschen gefüllt, die hier Zuflucht suchten. Ein paar Dutzend sind noch da. Leiter der Mission ist der niederländische Pater Jan Mol, der 1971 nach Kongo kam.

Nie hätte der 68-jährige Kirchenmann gedacht, dass Ituri solche Gewalt erleben würde wie in letzter Zeit. „Körperteile abzuschneiden und eventuell zu essen hat einen kulturellen Hintergrund“, versucht er das Unfassbare zu rationalisieren. „Die Leber und der Penis zum Beispiel werden als Hort magischer Kräfte gesehen. So ist das in Zeiten des Krieges zu erklären.“ Aber man dürfe nicht einfach alle als Kannibalen und Mörder ansehen: Es gebe viel mehr Opfer als Täter. „Die Zahl der unschuldigen Frauen, Kinder und selbst Babys, die auf grausame Weise abgeschlachtet wurden, ist viele Male größer als die der Milizionäre.“

Während Jan Mol spricht, klopft leise jemand an seiner Tür. Ein abgemagertes altes Ehepaar kommt herein und erzählt ihm, dass einige seiner Kinder getötet wurden, die anderen geflohen sind. „Wir haben keinen, der für uns sorgt“, klagen sie. „Wir haben nichts zu essen.“ Jan Mol führt die beiden zu zwei Stühlen auf der Veranda und verspricht, etwas zu organisieren. „Nicht nur wir und Albertine helfen“, erklärt der Pater. „Es gibt zahlreiche Leute in der Stadt, die geholfen haben, wo sie konnten, ohne auf die ethnische Zugehörigkeit der Bedürftigen zu achten.“

In der zur Straße hin liegenden Mauer des Missionsgeländes sind zahlreiche Einschusslöcher zu sehen. Aber genau wie bei Albertine sind bei den Weißen Vätern keine Menschen getötet worden.

Jan Mol hofft nun, dass mit der internationalen Eingreiftruppe in Bunia wieder Ruhe einkehrt. Aber lediglich die Hema- und Lendu-Milizen auseinander zu halten, kann seiner Meinung nach nicht die vollständige Lösung sein: „Entwaffnung ist das Wichtigste. Ob man den Milizen die Waffen abkauft oder mit Gewalt wegnimmt, ist egal, aber das Zeug muss weg. Ich kann nur hoffen, dass die neuen Truppen die Situation hier schnell verstehen und an die Vereinten Nationen in New York weitergeben. Ein kräftigeres Mandat ist nötig, um wirklich Frieden zu schaffen.“ Von Entwaffnung der Milizen ist im Mandat der Eingreiftruppe nämlich keine Rede.

Große Hoffnungen, dass die neue Truppe langfristige Verbesserungen bringen könnte, scheint man in Bunia nicht zu hegen. Okapi, die einzige Kneipe, die momentan funktioniert, hat abends viel Kundschaft. UNO-Personal, bewaffnete Hema-Milizen und ausländische Journalisten trinken dort Bier und Wasser. Andere Getränke gibt es nicht. Die verschiedenen Gruppen haben kaum Kontakt zueinander. Jeder plaudert in seiner Ecke.

Jean, ein Student, hockt allein in der Kneipe. Er verdient etwas Geld als Übersetzer für ein Fernsehteam. „Ich kriege das Gefühl, dass Bunia die relativ friedliche Hauptstadt einer kriegszerstörten Provinz Ituri wird“, schildert er seine Sicht der Zustände nach dem Einrücken der Eingreiftruppe. „Hier gibt es nichts mehr zu plündern oder zu morden. Jetzt ziehen die Milizen aufs Land. Und was sich dort abspielt, weiß keiner. Dort bekommen die Menschen auch keine Hilfe.“