BERLIN - VON KENNERN FÜR KENNER
Ein Herzkatheter

Leerstelle (6): Der Hinterhof als Reich der Zwischenarten, vor allem wo er seinen Rückweg antritt in die Natur

An dieser Stelle beschäftigen sich Franziska Hauser (Fotos) und Thomas Martin (Text) vierzehntäglich mit den Nebenstellen des Lebens.

Der Mensch hat vier Enden, sagt ein anonymer Kinderspruch, der ausgeht vom bekannten Krakelmännchen. Die Stadt, als Piktogramm gesehen, wird beliebig viele Enden haben oder keins und ihre Mitte wird meist mehr politisch als topografisch ausgemacht. Wo sie topografisch nun tatsächlich liegt, in der Mitte von Mitte (plus Tiergarten und Wedding), ist jene Kreation entsprungen, die anders zu nennen als kongenial gar nicht ist. So hat sie Werden und Verfall des urbanen Biotops in die Hand gewirkt und tut es noch, und zu besichtigen ist sie frei Haus. Allerdings, man muss sich durchschlagen dorthin, der Grund ist privat, der Zugang nicht bezeichnet und von oben droht Gefahr durch Ziegelbruch und Mieterunwillen. Man muss es sich zusammensetzen: Haus – Herz – Eisen – Baum (der florale Rahmen ringsum). Man bekommt das nicht serviert, man muss es mit Ruhe in den Fokus kriegen, perspektivisch leicht nach links versetzt. Man wird nicht falsch liegen in der Annahme, das Haus zu Beginn der zeitlichen Folge zu sehen – als den Ursprung des Ensembles, nicht dessen Hintergrund allein – das Rohr aus der Wand, als Drittes das Graffito. Die Natur, unterdrückt, war immer schon da.

Schöner vielleicht wäre das Herz gezeichnet um den Punkt, wo sich das Mauerwerk vom Rohr durchbrochen zeigt, der Symbolgehalt erhöhte sich um hundert: Herzkatheter ließe sich sagen, Bypass, hier steht es schlecht, ließe sich sagen. Auf Bedürftigkeit würde schon das Rohr alleine weisen, das in so auffälligem Disproporz zur Hauswand senkrecht aus dem Bildrand kragt. Wer hat es wozu angelegt und eingeführt? Was soll durch den verbogenen Hohlraum fließen in den Grünstreif am Sockel der Mauer? Aus einer Wohnung, einer Küche beispielsweise, einer Werkstatt, die zur Kühlung eines heiß gelaufenen Aggregats (das was produziert) Wasser nötig hat? Ist es Notbehelf gewesen, ist es noch?

Auffällig, dass der kleine Baum seine Krümmung dem gekippten Winkel aus Metall natürlich anzugleichen scheint, als ob Liebe zum leblosen Gegenstand ihn bewegt. Die erstaunliche Analogie wächst und schält sich jährlich in ein höheres Stadium. Immersion nennt die Naturwissenschaft das Phänomen unter den Himmelskörpern – wenn einer eintaucht in den Schatten eines anderen. Beinah ließe hier sich reden davon aus irdischer Sicht. In Zukunft wird der Knick im Rohr den Baum womöglich verführen, einwärts in das Haus zu wachsen; osmotische Durchdringung organischer und anorganischer Substanzen wäre die Folge, Hundertwasserstrategien trügen Früchte. Wenn aus den Knospen feuchte Stempel ragen, aus denen irgendwann die Früchte hängen durch die Wand und in den Mund eines dahinter Schlafenden; warum nicht, es könnten ja Kastanien sein. Zwar, das Laub lässt eher schließen auf Exotisches, wenn genießbar überhaupt. Das unentschiedene, dem Laien schwer entzifferbare Gemeng aus Bambus, Riesenfarn und auch Holunder entzieht sich eindeutiger Bestimmung, verspricht aber Seltenheitswert, Gewinn jedenfalls für den Mieter.

Wenn Dahlems Botanischer Garten der Großberliner Korruption zum Opfer fällt, bleibt (neben dem unentdeckten Botanischen Volkspark Rosenthal) der Hinterhof erhalten, bis auch der versiegelt wird im Zug der fortschreitenden Totalsanierung der Stadt, deren zweitübelste Nebenwirkung nach der Privatisierung der luftdichte Verschluss von ungeschützten Lebensräumen und Brachen der Hermeneutik ist, wie der vorliegenden. Oasen müssen nicht Früchte im Übermaß tragen. In den Jardin des Plantes ging August Strindberg im Pariser Exil (nach dem in Berlin verdorbenen) so gut wie täglich um der Ruhe willen, schließlich „um der Schöpfung Lebewohl zu sagen“ im Frühjahr 1897. Das alles kann man heute tun und hier, abseits der August- zwischen Friedrich- und Tucholskystraße, wo die (ungefähre) Mitte der Stadt gesetzt sein soll in leicht verwechselbarem Ausschnitt. Und in der Ruhe lässt sich Einsicht finden, dass alles das „von Hand geschaffen“ ist. Nach Strindberg der des (einzigen) Schöpfers: „Oft macht er ungeheuere Fortschritte, indem er die Arten erfindet, und dann kommt die Wissenschaft, stellt Lücken, fehlende Glieder fest und bildet sich ein, die Zwischenarten seien verschwunden.“ Hier sind sie. Der Hinterhof als stilles Reich der Zwischenarten, vor allem wo er seinen Rückweg antritt in die Natur.

THOMAS MARTIN