Hören statt Springen

Das anspruchsvollste Programm des Open Air-Sommers? Richtig laut jedenfalls kracht es beim diesjährigen „Hurricane Festival“ nur selten

von VOLKER PESCHEL

Es wird nicht so voll in diesem Jahr in Scheeßel. Vielleicht ist es die Auswahl an Headlinern, die am übernächsten Wochenende einen Besucher-Rückgang bescheren wird. Denn keine Rock-Superstars posieren wie im Vorjahr die Red Hot Chili Peppers, als sich gut 52.000 Fans am letzten Abend auf dem regennassen Gelände drängten und das „Hurricane“ damit zum größten deutschen Festival des Jahres machten. Mit etwa 40.000 Zuschauern rechnen die Veranstalter dieses Jahr – ein gesunder Rückgang. Dafür wird an drei statt wie bisher an zwei Tagen getanzt, gefeiert und campiert. Und das ohne wesentliche Erhöhung des Ticketpreises.

Ein Blick auf das Line-Up zeigt, dass es erstaunlich ruhig zugeht: Die ganz großen Teenie-Hüpf-Bands fallen aus, dafür liegt das Augenmerk auf einer Palette von Vorzeigekünstlern. Hoch gehandelte Elektronika sind stark präsent, an den Gitarren gibt es eher gesetztere Töne und edles Songwriting für ältere Semester. Der Freitag startet auf der kleinen Bühne im Zirkuszelt mit exquisiten Acts: Gus Gus mit ihren besonnenen Klangfeldern, die schwelgerischen Edelfedern Goldfrapp, Portishead-Diva Beth Gibbons auf ihrem betörenden akustischen Soloausflug mit Talk Talk-Visionär Paul Webb und schließlich die isländischen Kritiker-Darlings Sigur Rós mit fragilen Tüfteleien.

Altgedient geht es derweil auf der Hauptbühne zu: mit der überlebten Füllband Therapy? oder den melodisch-braven Britpoppern Starsailor. Headliner sind die englischen Gitarrenpop-Pathetiker Coldplay, die Gewinner des letzten Jahres. Ihre Vorhut im Geiste, Travis, haben sie im Rückspiegel zurückgelassen, und Sänger Chris Martin lässt sich inzwischen, so sagt er, von seiner Herzensdame Gwyneth Paltrow Käse-Stullen für den Proberaum schmieren. Um, so gestärkt, allerschönstes Pop-Songwriting abzuliefern. Mehr geht nicht.

Den Weckdienst am Sonnabend übernimmt MTVs Markus Schultze mit seiner Rockcombo Underwater Circus. Auf dem Nebenschauplatz im Zelt können Freunde der Stromgitarre währenddessen den Kopf schwingen zu den neuseeländischen Jeans-Rock‘n‘Rollern The Datsuns, den Wüsten-Stonern von Fu Manchu und den Traditionsrockern The Hellacopters. Zu laut? Dann bleiben die kopflastigeren Klänge der bayerischen Schlossherren Slut, die soliden New-York-Rocker Interpol oder die Spaßvögel von Supergrass.

Die Hauptbühne bietet einen groovy Doppelschlag: die Berliner Reggae-Großposse Seeed und die kongenialen Black-Music-Göttern der Gegenwart, The Roots. Doch auch die Pleite des Abends wartet: Die inzwischen personell eingedampften Massive Attack waren schon vor vier Jahren niederschmetternd langweilig – nun wollen sie als Headliner das wohl langweiligste Album des Jahres vorstellen. Schade, dass für diese Handbremse unter den Elektro-Großacts die wunderbare Björk bereits im Vorfeld auftreten muss. Mund-Offen-Momente wie 1998, als sie im weißen Kostüm die „Hurricane“-Bühne beschritt und bis tief in die Nacht sang, wird es also nicht geben.

Am Sonntag darf getanzt werden: Im Zelt bei der Hamburger Allstar-Truppe International Pony, Console, Moloko und dem Hamburger Songwriting-Frohgeist Patrice; auf der Hauptbühne pumpen die Elektronik-Rock-Helden Underworld und Asian Dub Foundation. Bleiben als würdiger Abschluss die britischen Feingeister Radiohead, die sich nach ihrer trotzigen Abkehr vom jüngergleichen Fankreis nun wieder mit dem Publikum anzufreunden scheinen. Hymnisch ist ihr neues Album, spannend zu sehen, ob sie erneut zum geliebten Gitarren-Genie-Act werden können.

Welcher der vielen zurückhaltenden Charaktere sorgt für jene unvergesslichen Festivalmomente, für die – das weiß, wer im letzten Jahr beim bereits legendären New Order-Auftritt wadentief im Wasser groovte – selbst das Wetter nur eine Randerscheinung ist?

20–22.6., Eichenring, Scheeßel (Kreis Rotenburg/W.); Infos und Programm: www.hurricane.de