Der kurze Vogel fängt den Wurm

Sumpfrohrsängerweibchen folgen bei der Suche nach Sexualpartner einfacher Regel

Rüdiger Becker von der Vogelschutzwarte Oderland beginnt früh sein Tagwerk. Bereits eine Stunde vor Sonnenaufgang ist er fernglasbehängt mit Gummistiefeln und Parka unterwegs in die Schilfgürtel des Oderberger Sees. Sein Interesse gilt einem gefiederten Gesellen, dessen lateinischer Name Acrocephalus palustris lautet und Sumpfrohrsänger bedeutet. Der im Durchschnitt 13,5 cm kurze tarnfarbene Vogel zählt zu den Grasmücken. Virtuos klammert er sich mit seinen Krallen an Schilfrohr-Stängeln fest, wobei er strikt darauf achtet, eine aufrechte Haltung einzunehmen. Warum? Ganz klar, meint Becker: damit er beim Singen nicht zu weit absteht oder gar schlapp nach unten durchhängt. Der Gesang muss nach oben abgehen, sonst hört ihn keine! Denn das Hauptinteresse des männlichen Sumpfrohrsängers ist es im Frühjahr, vorbeifliegenden paarungsbereiten Weibchen zu imponieren.

Die Sonne ist aufgegangen. Um schüttere Weiden quillt dichtes Schilf, das vom Ufer auslaufend in Buschwerk übergeht. Überall hört man Vogelstimmen: Rebhühner purren lüstern, Fasane keuchen heiser und verlegen, ein Kuckuck ruft schwachsinnig immer wieder sich selbst. Plötzlich folgt eine Art Potpourri: Ein Pirol pfeift, ein Trompetenvogel trompetet, und auch Goldralle, Reissittich, Bienenfresser, Löffler, Kongofink, Krickente, Kakadu, Pelikan, Flamingo und Ibis schwingen die Schnäbel, bis die Platte einen Hänger hat und nach gemessener Sangespause des Imitators alles von vorne losgeht. Beckers Augen strahlen: „Das ist Acrocephalus palustris, der Sumpfrohrsänger, die lebende Vogelstimmen-CD! Er bringt viele Stimmen afrikanischer Vögel aus dem Winterurlaub mit in seine europäischen Brutgebiete. Er imitiert alles, was ihm vor die Ohrlöcher kommt!“

Das Nebelhorn des Wasserschutzpolizeibootes bleibt ebenso wenig ausgespart wie Beckers Handy, das einen simplen Kranichruf ausquäkt.

In der Tat haben die kleinen akustischen Wiederkäuer momentan reichlich Gelegenheit, Raubkopien des Elektrokranich-Klingelns zu ziehen. Je höher das Taggestirn klettert, je häufiger wird Becker im Schilf angefunkt. „Das ist schon etwas nervig!“, meint der Vogelbalzforscher. Doch nach seinen jüngsten brisanten Enthüllungen, die er in der renommierten internationalen Fachzeitschrift Ornithology veröffentlicht hat, verwundert das öffentliche (männliche) Interesse kaum. Sind Beckers sensationelle Erkenntnisse aus der Balz- und Feldvogel-Forschung vielleicht auf die Anmachstrategien der Menschenmännchen zu übertragen? Becker lässt den Kranich dreimal rufen, um keinem Sumpfrohrsänger auf den Leim zu gehen. „Rohrsänger repetieren nicht innerhalb einer Strophe!“

Am Gerät ist ein Soziologe aus Wien, dem es offensichtlich um die gerade angesprochene Frage geht. Becker bestätigt freundlich, was er unter dem unscheinbaren, beinahe schamhaft verschleiernden Titel „Kurze Aufnahmen vom Gesang des Sumpfrohrsängers liefern die mit dem Balzerfolg korrelierenden Indizien“ veröffentlicht hat.

„Ja, das haben Sie richtig verstanden: Der Gesang hat ganz unterschiedliche Längen. Einige Typen flöten scheinbar endlos. Andere dagegen sind regelrecht einsilbig, kurz und knapp. Nach allem, was ich beobachtet habe, ist es ganz eindeutig, dass ein vorüberfliegendes Weibchen nur ganz wenig Zeit braucht, um die Qualität eines Männchens am Gesang zu erkennen. Wie? Musikalische Qualität? Fülle des Repertoires? Ach wo – das ist doch alles Quatsch mit Sülze: Auf den Punkt bringen, kurz und bündig, das ist das Signal! Die Paarung findet binnen weniger Sekunden überall da statt, wo die männliche Ansage nur kurz genug war. Und in erstaunlich hohem Maße stellt sich schon bald Nisterfolg ein! Hallo? Haallooo? Einfach aufgelegt, der schmähliche Schnösel! Als Wiener wird er es angesichts dieses Befundes nicht ganz leicht haben …“ TOM WOLF