frisches Flimmern: Deutsche Würstchen in Ost und West
Zwei Filme erzählen vom Verlust des Gewohnten und zeigen eine aus den Fugen geratene Welt. Sie orientieren sich dabei an der Wirklichkeit – Die Grenze zwischen Dokumentar- und Spielfilm verschwimmt.
Zusammenbruch I
Der dicke Schultze (Horst Krause) lebt hinterm Berg. Die auffällige Landmarke des kleinen Ortes in Sachsen-Anhalt ist eine riesige, futuristisch geformte Abraumhalde, die wie der UFO-Landeplatz aus einem Spielberg-Film aussieht. Sein halbes Leben hat er unter ihr verbracht – als Kumpel im Bergbau. Jetzt ist Schluss. Der Witwer wird in den Vorruhestand geschickt. Sein einsames Dasein wird nun bestimmt von Gartenzwergen, Kneipen und dem örtlichen Heimatmusik-Verein, auf dessen Jubiläumsfeier er auf seinem Akkordeon Polka spielen soll. Während seine Freunde sich in den familiären Trott flüchten, bleibt Schultze nur sein Schifferklavier. Als er zufällig nachts im Radio traditionelle Musik aus den Südstaaten der USA hört, nimmt sein Leben eine neue Wendung. Der schnelle Rhythmus dieser „Negermusik“ berührt ihn zutiefst. Er reist zum Wurstfest nach New Braunfels und ins sumpfige Louisiana. Doch die dortige Provinz ist genauso trostlos wie der Osten Deutschlands. Erst als er sich auf eine letzte einsame Bootsreise entlang des Mississippi begibt, erfährt er doch noch den wahren Blues. Die eigentliche Handlung erscheint nebensächlich. Die dargestellten Orte sind austauschbar. Ursprünglich wollte Regisseur Michael Schorr sein eigenartiges Roadmovie „Schultze get the blues“ sogar im Saarland realisieren. Auf jeden Fall sollte der Film an real existierenden Orten spielen und die Menschen der Region miteinbeziehen. So spielen Laiendarsteller neben professionellen Schauspielern. „Ich wollte die Grenzen zwischen Dokumentar und Fiktion permanent überschreiten“, sagt Schorr, der die Realität in seinem ersten langen Spielfilm überhöht zeigt. Die bittere Komik und die skurrilen Figuren erinnern auch an Arbeiten des finnischen Regisseurs Aki Kaurismäki. Der Film wurde auf der Biennale in Venedig 2003 mit dem Spezialpreis „Controcorrente“ (Gegen den Strom) für die beste Regie ausgezeichnet.
Zusammenbruch II
1984 war die Welt noch in Ordnung. Jetzt ist Schluss mit der Gedankenpolizei: 20 Jahre lang arbeitete Herr S. als Stasi-Major für den Überwachungsstaat. Aus Liebe zum Volk. An seinem letzten Arbeitstag berichtet er von seinem Leben. Er hat viel gesehen, aber nichts begriffen. In seiner Filmcollage „Aus Liebe zum Volk“ setzt sich der in Frankreich lebende israelische Filmemacher Eyal Sivan (“Ein Spezialist“) wieder mit Deutschland auseinander. In Zusammenarbeit mit der Französin Audrey Maurion entstand eine Art fiktionaler Dokumentarfilm. Die deutsch-französische Koproduktion basiert auf dem schriftlich festgehaltenen Bericht eines ehemaligen Offiziers der Staatssicherheit der DDR. Sivan montiert die Erinnerungen des Herrn S. (gesprochen von Axel Prahl) mit bisher unveröffentlichten Bildern von Überwachungskameras, Stasi-Schulungsfilmen und Verhöraufnahmen aus dem Filmarchiv der Gauck-Behörde. Hinzu kommt nachgestelltes unauffälliges Material. Den Bildern ist somit nicht zu trauen. Dieses Vertrauen will Sivan bewusst sprengen, um den irrtümlichen Zusammenhang von Überwachung und Erkenntnis zu verdeutlichen. In der Montage von eingesprochenem Ton und den erspitzelten Bildern entsteht das Portrait einer Überwachungsgesellschaft, in der Misstrauen die Grundlage des Kontrollmechanismus war. „Das Verhältnis eines ganz natürlichen Sicherheitsbedürfnisses der Menschen einerseits und der Menschenrechte andererseits kommt allmählich aus dem Gleichgewicht und das ist eine sehr aktuelle Entwicklung“, sagt Sivan von seiner filmische Abhandlung über Macht und Ohnmacht von Bildern. Und wenn ein Archivbeitrag Erich Mielke in der Volkskammer zeigt, der „Aber ich liebe Euch doch alle!“ stammelt, dann wird zudem überdeutlich: begriffen hatten es längst nicht alle.
STEFAN ORTMANN
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