Wieder viele Räder still

Auch gestern demonstrierten und streikten in Frankreich tausende. Am größten ist die Nervosität an den Schulen, in denen die Lehrer das Abitur bestreiken wollen

PARIS taz ■ Der esprit de mai lebt. Auch im Monat Juni. Gestern, beim sechsten nationalen Aktionstag dieses Frühsommers, stand in Frankreich wieder ein großer Teil des öffentlichen Nahverkehrs still. Zudem wurden Schulen, Behörden, Banken, mehrere Industrien und einige Kaufhäuser bestreikt. In Paris demonstrierten am Mittag nach Gewerkschaftsangaben rund 200.000 Menschen. Gleichzeitig fanden Demonstrationen in dutzenden von Provinzstädten statt. Am Nachmittag eröffnete Premier Jean-Pierre Raffarin persönlich die Parlamentsdebatte über das Rentengesetz, das die Streikenden „sozial ungerecht“ nennen.

Die rechte Regierung will zunächst die Lebensarbeitszeit der Beamten von 37,5 auf 40 Jahre verlängern und sie damit den Beschäftigten der Privatwirtschaft angleichen, die bereits seit 1993 so lange arbeiten müssen, um den vollen Rentenanspruch zu haben. Ab dem Jahr 2008 will die Regierung die Lebensarbeitszeit für alle Beschäftigten verlängern. Zunächst sind 42 Jahre anvisiert. Später sogar 44 Jahre. Gleichzeitig werden die Renten neu berechnet. Dadurch werde sich das Rentenniveau je nach Branche um zwischen 20 und 30 Prozent senken, erklärt der Chef der größten Gewerkschaft CGT, Bernard Thibault. In einem gestern von zahlreichen Medien veröffentlichten Brief forderte er den Premierminister auf, neue Verhandlungen mit den Gewerkschaften über das Rentenvorhaben zu eröffenen. Die Regierung weigert sich, grundsätzliche Änderungen vorzunehmen. Sie will ihr Gesetz in diesem Sommer durchziehen. Und notfalls auf die parlamentarische Sommerpause verzichten.

Angesichts der großen rechten Mehrheit im Parlament, können die Oppositionsparteien das Vorhaben nicht verhindern. Sie haben sich stattdessen auf einen Prozedurenkrieg eingestellt. Allein die KP hat 7.900 Änderungsvorschläge zu dem 50 Absätze starken Gesetz eingereicht, die PS machte bislang 2.000 Änderungsvorschläge.

Zwei Tage vor Beginn der Abiturprüfungen, die in ganz Frankreich am selben Tag stattfinden, war die Nervosität gestern in den Schulen am größten. Die Lehrer, von denen sich eine Mehrheit an sämtlichen Aktionstagen beteiligt hat, protestieren nicht nur gegen die Rentenreform, sondern auch gegen die Sparpläne an den Schulen. Nachdem der Unterricht für dieses Schuljahr weitgehend beendet ist, sind jetzt die Abiturprüfungen das letzte Druckmittel der streikenden Lehrer. Wenn die allerletzte Verhandlungsrunde, die gestern mit dem Erziehungsminister und dem Innenminister begonnen wurde, keinen Erfolg bringt, wollen die Lehrer das Abitur bestreiken. Allerdings, so erklärten die Sprecher mehrerer Lehrergewerkschaften gestern sibyllinisch, wollen sie ihre Schüler nicht blockieren. Morgen früh werden die Prüflinge erfahren, was diese Nuance bedeutet.

DOROTHEA HAHN