Das Gespräch der Gesichter im Spiegel

Die Filmkritikerin Frieda Grafe schrieb Filmgeschichte. Nun liegen zwei neue Bände ihrer Ausgewählten Schriften vor

Als Filmkritikerin war sie so gut, weil sie vom Kritisieren nicht viel hielt. Frieda Grafe mochte keine Pro- und Contra-Abwägungen, keine höchstrichterlichen Wahr- und Falsch-Urteile; sie zählte das Loben oder das Verreißen nicht zu ihren Aufgaben, und das Nacherzählen einer Handlung hätte für sie bedeutet, Filme wie Romane aus dem 19. Jahrhundert zu behandeln.

Wie wenig der persönliche Stil der Münchener Filmkritikerin und -theoretikerin altert, konnte man vor Jahren in zwei Auswahlanthologien ihrer Aufsätze nachlesen. Der, so scheint es, wachsende Kreis ihrer Fans war darauf angewiesen, das verstreute Werk in Festivalkatalogen, in der Zeit, der Süddeutschen, dem Tip und – selten zwar – auch in dieser Zeitung aufzustöbern.

Seit knapp zwei Jahren macht der Berliner Verlag Brinkmann und Bose dieser Zerstreutheit ein Ende und gibt ihre Schriften in einer zwölfbändigen Ausgabe posthum heraus. Von Frieda Grafe selbst noch vorbereitet, ediert ihr Ehemann und langjährige Arbeitspartner Enno Patalas ihre Texte nach thematischen Schwerpunkten.

Welche Filme Frieda Grafe ursprünglich zum Schreiben anregten und ein Leben lang nicht losließen, liest man im dritten und vierten Band der Reihe, „Nur das Kino – 40 Jahre mit der Nouvelle Vague“ und „Aus dem Off – Zum Kino in den Sechzigern“. Darin sind Kritiken, Aufsätze und Gespräche aus der Zeitschrift Filmkritik versammelt, in der Frieda Grafe ab 1961 veröffentlichte, aber auch Interviews und größere Essays aus ihren späteren Jahren.

Folgt man den Texten zu Filmen von François Truffaut, Jean-Luc Godard, Eric Rohmer und Jacques Rivette – Frieda Grafes Lieblingen der Nouvelle Vague –, teilt sich ihre Lust am visuellen Erlebnis direkt mit, ihre Neugier auf das Geheimnis des Kinos, das sie im Schreiben entschlüsseln wollte. Zu Jean-Luc Godards „Vivre sa vie“ („Die Geschichte der Nana S.“) schildert sie zum Beispiel, wie in der Eingangsszene die Rücken eines Paares in Fahrtaufnahme gezeigt werden. Die Spiegelwand hinter der Bartheke gibt ab und zu Gesichter zu erkennen. Aber das Gespräch des Paares, nachträglich aus dem Off hinzugefügt, ist nicht sicher den Sprechenden zuzuordnen.

Die Sprache, entdeckt Frieda Grafe, funktioniert hier nicht als Begleitung des Bildes; die Szene irritiert konventionelle Zuschauererwartungen, die Mittel der Darstellung relativieren das Dargestellte. Inzwischen mögen solche cineastischen Kommentare auf die Komplexität der Wirklichkeitswahrnehmung zu bleischweren Gemeinplätzen der Semiotik mutiert sein. In Frieda Grafes Texten sind sie frische Ursprungserlebnisse, deren anschauliche Entfaltung man mit leichtem Sinn liest.

Kein Theoriegebäude türmt sich in diesen Büchern auf. Vielmehr fasziniert, wie sie im Abstand der Jahre immer wieder neu auf die Filme der Sechziger zurückblickt, und später die Mythenbildung der zu Klassikern avancierten Nouvelle Vague auseinander nimmt. Waren die Pariser Cliquen-Könige ebensolche Autoren/Künstler, wie sie es von ihren amerikanischen Vorbildern Hawks, Welles, Hitchcock behaupteten? „Vandalen mit Maßen“ sind sie in Frieda Grafes Augen: Durch gegenseitige Hilfe beim Filmemachen verbandelt, allesamt Paris-Liebhaber und mit mehr Lust aufs Improvisieren aufgeladen, als man es später wahrnahm – mithin alles andere als Autoren.

Sie selbst, das zeigen die bisher erschienenen vier Bände auch neuen Lesern, war von der frischen Art, mit der die Nouvelle-Vague-Regisseure und die Filmkritiker der Cahiers du Cinéma auf Vorbilder zugriffen, derart infiziert, dass sie sich neben ihrer aktuellen journalistischen Arbeit für die Filmkritik auf die Suche nach unverbrauchten, nicht ideologisch besetzten Perspektiven auf die Filmgeschichte machte. Dass sie, die während der Nazizeit aufwuchs, erst beim Studium in Paris auf Murnau stieß, hat sie ein Leben lang nicht losgelassen.

Licht, Farbe, Raum und Zeit im Film – Frieda Grafe beherrschte die Kunst, im Kino Gesehenes mit profunder Kenntnis der Produktionsbedingungen zu analysieren. Die Verwandtschaft des Kinos zu den älteren Künsten interessierte sie, mehr jedoch die Frage, wie Filme seit hundert Jahren die Wahrnehmung – im wörtlichen Sinn: die Weltanschauungen – der Macher und des Publikums verändert haben.

Die ersten beiden Bände der Schriften – zum Thema Farbe und zum Kino der Weimarer Republik – dokumentieren ihre souveräne Methode, die technischen und produktionsgeschichtlichen Herstellungsbedingungen des Kinos mit psychoanalytisch und mentalitätsgeschichtlich geschultem Blick auf den Punkt zu bringen.

Die neuen beiden Bände bieten die Anschauung dafür, wie sich aktuelle journalistische Berichterstattung bei ihr schon früh in den Sechzigerjahren mit theoretischen Interessen kreuzte – und wie sich darin ihre grundsätzliche Haltung niederschlug, mit dem Schreiben zum Abbau von hierarchischem Denken beizutragen.

Ratlos machte sie zum Beispiel das Festival in Cannes, das 1968 von protestierenden Filmkünstlern gesprengt worden war, 1969 aber nach Schema F ablief. Geschmeichelt fühlte sie sich vom alten Grandseigneur Josef von Sternberg, wie der zum ersten Mal veröffentlichte Briefwechsel („Aus dem Off“) erzählt. Aber entschieden wehrte sie sich darin gegen die Lässigkeit, mit der er Änderungen der Zeit-Redaktion an einem Hommage-Text von ihr bagatellisierte.

Frieda Grafe verstand ihr Schreiben als hochkomplexe Übersetzungsarbeit ins Medium Schrift. Man lernt sehen mit ihren Texten. Man lernt auch (so der angekündigte Titel eines der nächsten Bände): wie Film Geschichte anders schreibt.

CLAUDIA LENSSEN

Frieda Grafe: „Nur das Kino – 40 Jahre mit der Nouvelle Vague“, Ausgewählte Schriften Bd. 3. Brinkmann und Bose, Berlin 2003, 173 Seiten, 22 €ĽFrieda Grafe: „Aus dem Off. Zum Kino in den Sechzigern“, Ausgewählte Schriften Bd. 4. Brinkmann und Bose, Berlin 2003, 184 Seiten, 22 €