Agata die Starke

Polens schwergewichtige Lieblingssportlerin kämpft bei der EM im Gewichtheben um die Olympiateilnahme

WARSCHAU taz ■ In Polen ist sie Nationalheldin. Bei den Olympischen Spielen in Athen soll sie Gold holen. Doch ob Agata Wrobel überhaupt nach Griechenland fahren darf, ist noch nicht sicher. Denn die „stärkste Frau Europas“ hatte in den letzten Monaten Wichtigeres im Kopf als sportliche Wettkämpfe. Sie wollte ihr Abitur bestehen. Nun fehlen der Schwerathletin noch einige Punkte zur Olympiaqualifikation. Eine letzte Chance hat die 120-Kilo-Frau noch – in Kiew, wo sie derzeit bei den Europameisterschaften im Gewichtheben startet. Vor zwei Jahren im türkischen Antalya hatte sie in der Gewichtsklasse über 75 Kilo die Goldmedaille geholt, letztes Jahr im griechischen Loutraki die Silbermedaille.

Eigentlich hatte Agata Wrobel Köchin werden wollen. Doch in der Nähe ihres Heimatortes in Südpolen gab es nur eine Schneiderschule. „Auch gut“, dachte sich Agata damals: „Dann werde ich eben Schneiderin.“ Doch die Mutter machte ihr einen Strich durch die Rechnung. Am ersten Schultag meinte sie: „Weißt du, Agata, aus dir wird doch nichts Gescheites. Bleib besser zu Hause und kümmere dich um deine Schwester.“ Alles Bitten, Schreien und Toben half nichts. Die Mutter, selbst Schneiderin von Beruf, blieb stur. Der Vater, seit Jahren arbeitslos, schnappte sich eine Flasche Wodka und verkroch sich in eine Ecke.

Agata war damals 16 Jahre alt, wog 100 Kilo und hatte keine einzige Freundin. In der neuen Schule wollte sie ihr Leben umkrempeln. Immerhin lag die Schneider-Schule in Zywiec rund 15 Kilometer von ihrem Heimatdorf Jelesnia entfernt. Kein Kind würde dort „Dickwanst“ oder „Dummbeutel“ hinter ihr herschreien. Sie würde gut lernen und vielleicht sogar das Abitur bestehen. Das Verbot der Mutter traf sie ins Mark: Als Kindermädchen der Schwester würde sie nie aus dem polnischen Bergdorf herauskommen.

Vier Jahre später, im September 2000, steht Agata Wrobel auf dem Olympia-Siegertreppchen von Sydney: sie hat hinter der Chinesin Mei-Yuan Ding die Silbermedaille im Gewichtheben gewonnen. Auf dem Podium geben die Nerven der starken Frau nach. Sie weint. Ausnahmsweise vor Freude.

Heute trainiert Agata Wrobel mit Polens Gewichtheberinnen-Nationalteam in Siedlce, die Frauen sind europäische Spitze in diversen Gewichtsklassen. In Kiew gewannen sie schon Gold durch Aleksandra Klejnowska (bis 58 kg) und Silber durch Dominika Misterska (bis 63 kg). Beide hatten den polnischen Verband allerdings vor zwei Jahren auch ins Zwielicht gebracht, als sie bei der EM in Antalya der Einnahme verbotener Substanzen überführt wurden.

Siedlce liegt kurz vor der Grenze zu Weißrussland und ist über 400 km von Agatas Heimatdorf Jelesnia entfernt. In der Halle ist es stickig und schwül. Über 20 junge Frauen schwitzen hier, reiben sich die Hände mit weißem Magnesiapulver ein, stemmen schwere Scheibenhanteln in die Höhe. Die Adern treten hervor wie dicke Seile. Dreimal pro Durchgang stoßen sie die Gewichte über den Kopf. Stöhnend lassen sie schließlich die Stangen mit dumpfem Knall auf den Boden fallen. In einer Ecke steht Agata. „Sie hat so viel Ehrgeiz wie Kraft“, sagt ihr Trainer Ryszard Socka. „Sie ist hartnäckig und mutig.“ Mit rot angelaufenem Kopf und zusammengebissenen Zähnen wuchtet die 23-Jährige über 140 Kilo in die Höhe. „Das Leben hat sie nicht gerade mit Samthandschuhen angefasst.“ Kurz vor den Wettkämpfen trainiert sie dreimal am Tag. 10 bis 14 Tonnen Gewicht reißt und stößt sie dann in die Höhe.

Mit einer Plastikmedaille fing alles an. Ihr Onkel hatte gesehen, wie sie vom hohen Ufer der Sopotnianka aus im Kopfsprung in den Fluss sprang und mit enormer Kraft stromaufwärts schwamm. Der Sportlehrer fragte die verhinderte Schneiderin, ob sie nicht Lust hätte, bei ihm Hammerwurf und Steinstoßen zu trainieren. Bei den ersten Jugendmeisterschaften holte sie gleich „Gold in Plastik“. Wenige Monate später überredete sie der Nationaltrainer Ryszard Socka, nach Siedlce ins Nationalteam der Gewichtheberinnen zu kommen. In der ostpolnischen Stadt wartete auch eine Schule auf sie und – zum ersten Mal in ihrem Leben – ein eigenes Bett. Das gab letztlich den Ausschlag.

In Siedlce trainierte die junge Frau, brach Europa- und Weltrekorde, sammelte in der ganzen Welt Medaillen im Gewichtheben – und im Mai letzten Jahres bestand die 22-Jährige ihr Abitur. Doch der Preis dafür war hoch: Bei den Weltmeisterschaften in Vancouver nur einen Monat zuvor landete sie – für alle unerwartet – nur auf dem 7. Platz. Fast hätte sie danach ihre sportliche Karriere aufgegeben.

Doch sie will es noch einmal wissen. In Kiew soll es eine Medaille sein, in Athen dann der ersehnte Olympiasieg.

GABRIELE LESSER