„Kunst ist für alle da“

Ein Gespräch mit der schottischen Schriftstellerin A. L. Kennedy über ihren Umgang mit guten und schlechten Kritiken, die „Defiktionalisierung der Fiktion“ und das Unterrichten von Schriftstellern

VON KATRIN KRUSE

taz: Frau Kennedy, gehen wir gleich in medias res. Sex spielt eine ziemlich große Rolle in Ihrem Schreiben.

A. L. Kennedy: Das mag an meiner Erzählperspektive liegen. Meist stecke ich sehr tief in den Köpfen meiner Protagonisten, und dann merke ich: Die Leute denken sehr viel über Sex nach. Männer noch viel mehr als Frauen. Dann interessiert mich diese Differenz: zwischen dem, was die Leute sagen und dann tatsächlich machen. Ich denke aber, ein viel größeres Thema von mir ist der Tod: Wir werden alle sterben – und es ist meine moralische Verpflichtung als Künstlerin, darauf hinzuweisen.

Sie sind calvinistisch erzogen worden. Macht es Vergnügen, das zu sagen, worüber man nicht spricht?

Immenses Vergnügen. Definitiv. Ich mag es, über all die Dinge zu schreiben, über die man nicht schreiben soll, und all das zu sagen, was man nicht sagen darf.

Sie haben auf Ihrer Homepage die Kritiken Ihrer Bücher unter „gut“, „schlecht“ und „unheimlich“ rubriziert. Es scheint, Sie halten diese Kritiken für eher vergnüglich.

Sehr vergnüglich. Ja, schlechte oder böswillige Kritiken stören mich wenig. Mittlerweile gibt es weniger schlechte Rezensionen als vielmehr so schlecht geschriebene, dass es mir schwer fällt, sie ernst zu nehmen. Eine gute schlechte Kritik hingegen kann wie ein Schlag sein: Kein Zweifel, es hat jemandem nicht gefallen. Das aber ist in Ordnung.

Das öffentliche Interesse an Ihrer Person schätzen Sie nicht besonders.

Ich weiß einfach nicht, was an Autoren so faszinierend sein soll. Wir sitzen den ganzen Tag und bewegen unsere Finger. Ich finde das lächerlich: Da ist nichts, was sich auf den Sockel stellen ließe.

Die Erfindungsgabe?

Die hat jeder, ob man sie nun zu einem Buch macht oder nicht. Jemanden zur großen Sache zu machen, nur weil er Kunst macht – genau deshalb macht man Kunst, um nicht auf dem Sockel zu stehen. Die Kunst soll auf dem Sockel sein: erreichbar für jeden. Es gibt diese Botschaft vieler Kritiker: „Wenn ihr das und das nicht wisst, dann könnt ihr das Werk nicht verstehen.“ Wenn das der Fall ist, dann ist es keine gute Kunst. Wer nach dieser Devise arbeitet, tarnt nur sein erzählerisches Unvermögen.

Allzu definierte Charaktere werden derzeit gern für real gehalten. Sie nennen das die „Defiktionalisierung der Fiktion“. Was ist der Grund für diese Tendenz, das Wirkliche hinter dem Erfundenen finden zu wollen?

Um es positiv zu wenden: Wenn man sich einen anderen Premierminister vorstellen kann, ist das immerhin der erste Schritt, einen anderen zu bekommen. Was mich aber stört, sind unzulässige Vermischungen. Es ist eine Frage des Vertrags, den man mit dem Leser hat: Schreibt man ein Tagebuch, dann schreibt man eine tatsachenorientierte Aufzeichnung von Ereignissen, die stattgefunden haben. Ist es keine Aufzeichnung von realen Ereignissen: Sag es mir. Wenn es jemanden belästigt, der klagen könnte: Ändere die Namen oder mach es nicht! Warum jemandem Schaden zufügen? Es ist sehr einfach: Sagt man die Wahrheit oder nicht? Beides ist machbar – nur muss man es sagen.

Sie haben einmal gesagt, ein Autor würde als Autor geboren.

Man mag mit der Anlage zum Schriftsteller geboren sein und wird doch nie einer werden: Wer nicht übt, wird nicht sehr weit kommen. Bevor man überhaupt anfangen kann zu schreiben, muss man mindestens zwölf Entscheidungen getroffen haben: In welcher Zeit will man erzählen, in welcher Person, welche Geschichte, Perspektive, Zeitspanne? Alles technische Entscheidungen – wobei sich die meisten von ihnen aus der Anfangsidee ergeben. Anderseits: Gegen den Drang zu erzählen kann man nichts tun. Ein schlechter Lehrer allerdings kann jemanden dazu bringen, mit dem Schreiben aufzuhören. Oder er verbirgt die eigene Stimme vor einem selbst oder zwingt einen dazu, seine Stimme zu übernehmen.

Was macht ein guter Lehrer?

So wenig wie möglich. Das Wertvollste für einen Schriftsteller ist, eine einzigartige Stimme zu haben. Die haben die meisten jungen Schreiber – am Anfang. Ein Lehrer muss dafür sorgen, dass sie darum wissen: dass sie deren Stärke kennen lernen und lernen, wie sie sich entwickeln kann. Wenn man Autoren ihre Stimme nicht finden lässt, klingt alles gleich. Was sie in Amerika machen ist großartig, um viel Geld zu verdienen. Nur ruiniert es den amerikanischen Roman.

Definieren Sie diese „Stimme“ bitte noch genauer!

Sie umfasst alles. Wie man etwas sagt. Wie man anfängt. Was man sagen will, was man dann tatsächlich sagt. Die Gesamtheit dessen, was man tut, ist Ausdruck der eigenen Stimme: Stärken, Schwächen, wofür man sich engagieren will. In Schreibgruppen bringen sie den Leuten oft Tricks bei oder machen ständig Übungen.

Was tun Sie, wenn sie Creative Writing unterrichten?

Ich treffe die Studenten einzeln, lese, was sie geschrieben haben –meistens den ersten Entwurf –, wir sprechen über Technisches, aber auch darüber, wie man einen Text betrachten kann, wie man herausfindet, wohin er gehen soll. Jeder Text hat einen eigenen Fluss. Letztendlich kann man die Studenten nur unterstützen, sich selbst zu finden.

Klingt nach sehr persönlicher Arbeit.

Es ist sehr persönlich. Schreiben ist eine schrecklich einsame, erschöpfende Sache. Wer das nicht vermittelt bekommen hat, der dreht durch oder erschöpft sich. Oder er schreibt ein erstes Buch, aber nie ein zweites. Wenn man schreibt, ist man abwesend – auch von sich selbst. Es ist wie Meditation. Ein sehr, sehr angenehmes Gefühl: Erst wenn man aufhört zu schreiben, wird es kompliziert. Man sollte jeden Tag reale Menschen treffen – und geduldige. Leute, die mit Schriftstellern zu tun haben, sind die geduldigsten Menschen der Welt.

Geduldig?

Ja, in allem. Es ist nicht leicht, sich mit jemandem zu umgeben, der sich ganz und gar etwas verschrieben hat, mit dem man nicht das Geringste zu tun hat, das man niemals durchdringen oder verstehen kann.