Auch ich bin ein Vertriebener

Ein verkrachter Enddreißiger auf der Suche nach sich selbst, seiner Heimat und seiner Familiengeschichte: Olaf Müllers Roman „Schlesisches Wetter“

„An meinen Händen klebte einhundertjähriges Mißlingen. Großmutters Geburtsjahr: 1900.“ – Enkel Alexander Schynoski, trauriger Held von Olaf Müllers zweitem Roman „Schlesisches Wetter“, trägt schwer an seinem Jahrhundertschicksal. Über fünfzig Jahre nach der Vertreibung seiner Familie aus Schlesien hockt er in seiner Wohnung in Berlin: Er ist fast vierzig, stark kurzsichtig und immens fett. Als Journalist arbeitet er seit Jahren nicht mehr, seine Freundin, eine erfolgreiche Architektin, hält ihn aus: eine jämmerliche Existenz, belegt mit dem Fluch der Familiengeschichte. Aber es ist wohl an der Zeit.

Während Flucht und Vertreibung der 10 Millionen Deutschen aus den Gebieten östlich der heutigen Grenzen mit den entsprechenden Fernsehdokumentationen endgültig im gesamtdeutschen Mediengedächtnis abgelegt werden, bemächtigen sich nunmehr die Nachgeborenen dieser Vergangenheit und behaupten, dass sie noch lange nicht Geschichte geworden sei – noch leben ja einige Zeitgenossen. In Müllers Roman ist es die Mutter, die von Schynoski aufgesucht wird, damit sie ihm hilft, sein familiäres Trauma zu überwinden. Zum ersten Mal erzählt sie ihrem Sohn, der mit der von der Großmutter bestimmten, gereinigten Familienfassung aufwuchs, ihre Version von Flucht und endgültiger Vertreibung und deutet an, wie ihr Leben bis heute davon bestimmt wird.

Großartig, wie Müller hier die Ungereimtheiten und Brüche hervortreten lässt, wie hier Alltägliches neben dem Schrecklichen steht und die nachträglichen Korrekturen das erlittene Leid nur noch grausamer aufscheinen lassen. Leider aber geht es dem 1962 geborenen Müller nur wenig um die Geschichten und Deformationen der Alten. Die „alte Heimat“, in zahlreichen Heimatabenden von der Großfamilie zelebriert, ist Schynoskis „entschiedenste Erinnerung der Kindheit“. Nur durfte er von dieser Heimat in der DDR nichts erzählen, weshalb ihn die Vertreibung nur das Schweigen lehrte und ihn auf ein uneigentliches Leben im Provisorium verpflichtete.

Diese übermächtige Wirkungsmacht des Vergangenen aber wirkt allzu dick aufgetragen und erscheint weniger als Schicksal denn als bedeutungsschweres Beiwerk, das einer Mann-in-Midlifecrisis-Geschichte zu höherem Sinn und tieferer Bedeutung verhelfen soll. Es bleibt ein Heimatkitschverdacht, den auch die angestrengt einfache, überexplizite Sprache nicht vertreiben kann. Der Mutterboden der Vergangenheit bietet genau das richtige Maß an vertrauter Fremdheit und Rückständigkeit für den von der Zivilisation angefressenen Mann. Schynoski erkennt schließlich in dem schlesischen Dorf den Ort der Geschichten seiner Kindheit. Ein alter Pole wird zum vermissten Großvater, während sich die Küche mit den Ahnen bevölkert. In einer kalten Dachkammer unter schweren Federbetten findet Schynoski zu sich selbst und vielleicht auch bald zur hübschen Enkelin des Alten. Er ist endlich heimgekehrt. CARSTEN WÜRMANN

Olaf Müller: „Schlesisches Wetter.“ Berlin Verlag, Berlin 2003, 236 S., 18 €