Suche nach den lebenden Toten

Neue „falsche“ Verschwundene in Chile geben rechten Anhängern des früheren Diktators Augusto Pinochet Auftrieb. Ein Sonderrichter soll jetzt Klarheit schaffen. Präsidentin Michelle Bachelet verteidigt die „historische Wahrheit“ der Diktatur

VON JÜRGEN VOGT

In Chile hat die Justiz einen Sonderrichter eingesetzt, der den Fällen vermeintlich Verschwundener während der Militärdiktatur nachgehen soll. Das Oberste Berufungsgericht in Santiago reagierte damit auf ein Ersuchen der Regierung von Staatspräsidentin Michelle Bachelet. Am vergangenen Wochenende hatte die Regierung drei weitere Fälle von Personen bestätigt, deren angeblich gewaltsames Verschwinden während der Diktatur von Augusto Pinochet (1973–1990) sich als falsch herausgestellt hatte.

Bei den dreien handelt es sich um eine Frau und zwei Männer, die als Verschwundene der Pinochet-Diktatur staatlich anerkannt worden waren. Die Frau war bereits 1955 gestorben, einer der Männer starb 2006. Der dritte Mann hatte 2005 in Argentinien einen Personalausweis beantragt, während seine Frau in Chile nach Medienberichten eine Witwenrente bezog. Wo er sich zurzeit aufhält, ist aber unbekannt. Zwar waren die beiden Männer während der Diktatur Opfer von Misshandlungen, dies habe jedoch nicht zu deren Verschwinden geführt.

Die Anhänger des 2005 gestorbenen Exdiktators Augusto Pinochet sehen sich durch die Fälle in ihrer Meinung bestätigt, dass keine Menschen während seiner Herrschaft verschwunden seien. Der Regierung wurde Tatenlosigkeit vorgeworfen. „Wir sind besorgt über die Gleichgültigkeit der Regierung angesichts dieser Fälle“, so Lily Pérez, Generalsekretärin der rechtsgerichteten Partei Renovación Nacional.

Präsidentin Michelle Bachelet wies sie jedoch mit deutlichen Worten zurecht. „Die Verletzung der Menschenrechte ist eine nationale Schande, die für immer in die Geschichte unseres Landes eingraviert bleiben wird, und wir werden es nicht erlauben, dass diese historische Wahrheit in Zweifel gezogen wird“, sagte sie. Bachelet erinnerte daran, dass sie selbst 1974 gefoltert worden war. Unter der Diktatur wurden in Chile nach offiziellen Angaben 3.195 Menschen ermordet. Bisher galten 1.183 als verschwunden, weil von ihnen jede Spur fehlte, darunter die zur Debatte stehenden Namen.

Der mit der Untersuchung beauftragte Richter Carlos Gajardo hat bereits angekündigt, die Angehörigen der vermeintlich Verschwundenen zu vernehmen. Dabei soll herausgefunden werden, ob sie im guten Glauben gehandelt hatten oder die in solchen Fällen übliche finanzielle Unterstützung des Staates unrechtmäßig beantragt und erhalten hatten. „Es gibt keinerlei Beschluss von Seiten der Justiz, der die Personen zu Verhaftet-Verschwundenen erklärt, ebenso wurde gegen niemand ein Prozess geführt, noch wurde jemand verurteilt“, so Gajardo. Sollten die Angehörigen unrechtmäßig gehandelt haben, muss der Staat Anzeige erstatten, fügte er hinzu.

Im November hatte in Chile das plötzliche Auftauchen des vermeintlichen Diktatur-Opfers Germán Cofré (65) Wirbel ausgelöst. Cofré war in Chile für tot erklärt worden, hatte aber in Wirklichkeit mit neuer Familie in Argentinien gelebt.