Setzen oder nicht setzen?

Vom „Sozialismus“ zum „großen Geschäft“: Auf Reisen sind WC-Besuche Vertrauenssache

Zuerst, muss ich gestehen, haben wir ein bisschen dümmlich herumgekichert. Damals, 1985, auf einer literaturwissenschaftlichen Exkursion in die DDR, auf den Spuren von Goethe, Schiller, Wieland, Tieck, tutti quanti. Michael Sch. (heute Dr. Michael Sch.) hatte aus seiner sportiven Reisetasche eine Großpackung einzeln verpackter Sagrotan-Tüchlein hervorgezaubert und war damit Richtung Toilette geschwebt. „Always be prepared!“, rief er uns noch über die Schulter zu.

Das war doch wohl ein wenig mimosenhaft, befanden wir heimlich. Immerhin hatten wir gleich bei der ersten Rast hinter dem eisernen Vorhang, ungefähr auf der Höhe von Eisenach, eine ordentliche Nase „Sozialismus“ geschnuppert. So zumindest nannten wir damals immer den durchdringenden Geruch nach Ost-Desinfektionsmitteln, an dem man bis 1989 selbst mit verbundenen Augen verlässlich hätte erkennen können, ob man sich gerade im Kapitalismus aufhielt oder weiter östlich. Bei uns im Kapitalismus hätte sich die chemische Industrie ganz ohne Frage die Mühe gemacht, einem so überaus effektiven Geruch eine spielerischere Kopfnote beizumengen.

Ausgerechnet hier, inmitten von Wolken dieses beißenden, stechenden, herrlich fremden Geruchs sollte man Angst vor bakteriellen oder viralen Infektionen haben? Am leis triumphierenden Blick des Michael Sch. konnten wir allerdings wenige Minuten später ablesen, dass das Vertrauen in sanitäre Anlagen sich nicht einzig durch den Geruchssinn speisen lässt. Nach fünf Tagen sozialistischer Notdurft mit ganz normal unterschiedlich gepflegten öffentlichen DDR-WCs war der halbe Reisebus nachgerade glücklich, gutnachbarschaftliche Beziehungen zu Michael Sch. zu unterhalten. Wie gut, dass er gleich eine Großpackung gekauft hatte!

Große Geschäfte auf Reisen sind eine Frage des Glaubens wie des Typs. Da gibt es den Schicksalsergebenen, der überall Platz nimmt, wo es ihm die Not befiehlt, und es gibt den sportiven Steh-Hocker, der lieber einen Krampf im Oberschenkel riskiert, als auf einem WC-Sitz Platz zu nehmen. Daneben gibt es den skeptisch-antiseptischen Alles-Desinfizierer, der sich nicht auf den Augenschein verlässt. Und schließlich und endlich gibt es den Dekorateur, der jede Klobrille vor Benutzung mit Lagen Klopapier gegen Hautkontakt präpariert.

Für letzteren Typus, der sich oft damit herumärgern muss, dass die sorgsam auf dem Sitz platzierten Klopapierstreifen bei der Benutzung verrutschen, hält die kapitalistische Warenwirtschaft seit einiger Zeit ein Produkt bereit, das jedem Klogang den Schrecken nehmen soll. Mit Sitclin Papierhygiene, einer Erfindung aus der Schweiz, verwandelt sich noch das zweifelhafteste Klohäuschen in einen Thronsaal. Dank ihrer Ziehharmonikatechnik erinnert die Papierschärpe rein optisch an die Halskrausen auf Gemälden niederländischer Meister. Auf so viel Kultur lässt man sich gerne nieder.

In der Anwendung lässt Sitclin noch ein wenig zu wünschen übrig, wie ein Probedurchlauf auf dem taz-Klo ergab. Den patentgefalteten „Retter in höchster Notdurft“ (Produktinformation) können Sie nämlich nur dann ohne Kontakt mit der Brille befestigen, wenn Sie eine Begleitperson Ihres Vertrauens hinzuziehen. Sodann muss man sagen, dass die wenigsten öffentlichen Toiletten genügend Platz für zwei Personen bereithalten, die gemeinsam eine Klogirlande aufspannen möchten. Auch sollte der fragliche Sitz trocken sein – denn Sitclin Papierhygiene löst sich in Wasser auf. Vermutlich auch in Ersatzflüssigkeit oder Schlimmerem.

Für alle Enge, alle Mühen allerdings entschädigt das geradezu krosse, knusprige Geräusch, wenn Sie sich auf der Papierhygiene niederlassen. Auch die Furcht, bei der Entsorgung durch die Kanalisation das Rohr der taz-Toilette nachhaltig zu verstopfen, erwies sich im Test erstaunlicherweise als unbegründet. (Toi, toi, toi!)

Die Sicherheit von Sitclin hat, wie eigentlich alles aus der Schweiz, seinen Preis. Pro Stuhlgang schlägt die weiße Klobordüre mit zirka 2 Euro zu Buche. Kein Wunder, dass die Firma in ihrer Werbebroschüre jubelt: „Einfacher geht’s nicht. Und lukrativer auch nicht. Denn in der Schweiz hat diese Innovation schon millionenfach für Furore gesorgt. Was Sie nun machen sollen? Gute Geschäfte. Nehmen Sie Sitclin in Ihr Sortiment auf, und immer dann, wenn Ihre Kunden mal für kleine Mädchen oder Jungs müssen, machen Sie das große Geld.“

Donnerwetter, das ist tatsächlich eine runde Sache. Sparen Sie sich das Reinemachteam in Ihrem Restaurant, Ihrem Hotel, Ihrem Ladengeschäft, Ihrem ICE, Ihrer Boeing oder was Sie sonst der Öffentlichkeit gegen Geld zur Verfügung stellen, und sagen Sie Ihren Kunden einfach: „Sie sehen ja selbst, wie fragwürdig hier die hygienischen Verhältnisse sind, kaufen Sie lieber Sitclin!“ So machen Sie – Pardon – aus Bremsspuren auch noch Gold. Ehrlich, auf diese Geschäftsidee wären die drüben, im Sozialismus, nie gekommen.

REINHARD KRAUSE