neuköllner oper: Elefantenmensch
John Merrick erfüllt sich einen seiner größten Wünsche: einmal wie ein richtiger Mensch zu schlafen, in ausgestreckter statt wie bislang in sitzender Position. Zu liegen heißt für Merrick, den Elefantenmenschen, aber zugleich, dass er im Schlaf ersticken wird: erdrückt vom eigenen verwachsenen, mächtigen Schädel.
Für Merrick war kein Platz auf dieser Welt. Gedemütigt von den Medizinern, die ihn am liebsten zu Forschungszwecken seziert hätten; von der Polizei, die in ihm ein gefährliches Monster sah. Verstoßen von den anderen Freaks der Jahrmarktshow, für die er als berühmte Kuriosität keiner mehr von ihnen war.
Spekulationen darüber, ob es tiefere Gründe für Peter Lund gibt, sich ausgerechnet mit dieser „Traurigen Ballade von John Merrick, genannt der Elefantenmensch“ von der Neuköllner Oper zu verabschieden, sind sicherlich müßig. Nach acht Jahren verlässt der Regisseur, Bühnenautor und künstlerische Leiter das Haus in der Karl-Marx-Straße, und man weint ihm sicherlich ebenso viele Tränen nach wie dem bemitleidenswerten Geschöpf Merrick. Lund will sich künftig ganz seiner Professur für Musical und Show an der Universität der Künste widmen und Gastregien an Staatstheatern wahrnehmen. Und hoffentlich auch weiterhin das eine oder andere Musical schreiben.
Sein Abschiedsgeschenk an die Neuköllner Oper ist ein reifes, aber auch zwiespältiges Werk. Wie in David Lynchs Film „The Elephant Man“ hält sich Lund zunächst weitgehend an die überlieferten Fakten des durch Geschwüre und Verwachsungen völlig entstellten Merrick, der in Freakshows zur Schau gestellt und 1887 von dem Londoner Arzt Dr. Treves in Obhut genommen wurde. Die Adaption von Lund und seinem langjährigen Mitstreiter Niclas Ramdohr ist eine Auftragsarbeit für das Theater der Jugend in Wien.
Wohl deshalb wurde als weitere Figur eine 14-jährige Tochter des Dr. Treves (Erwin Bruhn) hinzuerfunden: ein nerviges, verzogenes Gör, das wenn schon keinen Hund, wenigstens den Elefantenmenschen als Spielzeug haben möchte. Lund lässt Claudia Stangl diese Anna spielen, wie Kinder in Kinderstücken gemeinhin gespielt werden: zu laut, zu grell, zu plakativ.
Und auch die Moral wird überdeutlich serviert: Wahre Liebe sieht auch die Schönheit im Innern des Menschen und lässt sich von Äußerlichkeiten nicht abschrecken. Und: Auch wer anders als die anderen ist, hat ein Herz, hat Würde und verdient Respekt.
Diese sentimentalen, bisweilen tatsächlich berührenden Szenen bricht Lund in seiner Inszenierung immer wieder durch komisch-satirische Szenen, macht den Wissenschaftsstreit in der Akademie zu einer Clownsnummer, treibt den Jahrmarktszauber zu einem Horrorkabinett. Keine Frage, Lund beherrscht das Handwerk auch jenseits Neuköllner Off-Theater-Schnoddrigkeit. Sein und Ramdohrs „Elefantenmensch“ bedient gekonnt die Klaviatur der Stimmungen, wie massenkompatible Musicals. Eingängige Leitmotive, gepaart mit schleppenden Walzertakten, die sich in wiederholenden Melodiebögen ekstatisch nach oben schrauben, stehen im Kontrast zu filigranen, sanften Klavierakkorden. Und das ist in der Summe und Wirkung letztlich gar nicht so weit entfernt von Claude-Michel Schönberg „Les Misérables“.
AXEL SCHOCK
Neuköllner Oper, Karl-Marx-Str. 131–133. Nächste Termine: 24., 27., 29.–30. 4., 1.–2. 5., 20 h. Karten: 68 89 07 77
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