Eine Stadt bricht auseinander

Der gestern vorgelegte Sozialatlas zeigt einen fortschreitenden Zerfallsprozess Berlins. Nicht nur innenstadtnahe Kieze sind am Kippen, sondern auch Außenbezirke wie Spandau und Marzahn

VON ANNA LEHMANN

Wie eine Insel der Glückseligen ragt das Regierungsviertel aus einem Meer von Problembezirken. In Wedding und Friedrichshain, in Kreuzberg, Neukölln und Tiergarten leben überdurchschnittlich viele Menschen von Sozialhilfe oder Arbeitslosengeld, sie sterben früher, und ihre Kinder haben häufiger Übergewicht. Diese Daten liefert der „Berliner Sozialstrukturatlas“, der gestern zum zweiten Mal von der Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales vorgelegt wurde.

In Bezug auf das soziale Niveau seiner Einwohner ist Berlin seit der letzten Datenerhebung deutlich abgesackt. Schuld daran sei vor allem die anhaltend hohe Arbeitslosigkeit, sagt Sozialsenatorin Heidi Knake-Werner (PDS). Im Vergleich zur ersten Ausgabe von 1999 macht die Studie außerdem deutlich, dass sich ungünstige Sozialstrukturen inzwischen auch am westlichen und östlichen Stadtrand ausgebildet haben, speziell in Spandau, Marzahn und Hohenschönhausen.

Der Atlas zeichnet eine soziale Landkarte Berlins, die mit Indikatoren wie Einkommen, Arbeitslosigkeit, Lebenserwartung und Bildung erstellt wurde. Je schlechter die Werte, desto dramatischer die Sozialstruktur. „Die Schere zwischen den Bezirken geht auseinander“, sagt der Leiter der Erhebung, Gerhard Meinlschmidt. Die Arbeitslosenquote beim Tabellenletzten Kreuzberg ist um 20 Prozentpunkte höher als beim Spitzenreiter Zehlendorf. Aber auch innerbezirklich ist das soziale Gefälle steiler geworden. In Prenzlauer Berg hat sich der Helmholtzplatz infolge eines fast kompletten Bevölkerungsaustauschs nach oben entwickelt, während etwa der Kiez um den Syringenplatz abgefallen ist. „In drei Vierteln der 340 untersuchten Zonen ist die Situation schlechter geworden, in einem Viertel besser“, konstatiert Meinlschmidt.

Abgestürzt vom 9. auf den 14. Platz ist der östliche Stadtteil Marzahn. Bezirksbürgermeister Uwe Klett (PDS) macht dafür in erster Linie die Abwanderung verantwortlich: „Die Einkommensstarken ziehen ins 50 Meter entfernte Brandenburg, sozial Schwache ziehen zu.“ Diese Wanderungsbewegung sei ein Symptom vieler westlicher Großstädte und kaum zu stoppen. Man habe schon Anfang der 90er-Jahre damit gerechnet, meint Klett.

Was tun? Senatorin Knake-Werner will mehr Geld in Brennpunkte umleiten: „Der Sozialstrukturatlas sollte Planungsgrundlage für die Budgets der Bezirkshaushalte werden.“ Uwe Klett sieht als Rettung für seinen Bezirk „Kinder, Kinder, Kinder“. Marzahn lebe von Familien, die Dienstleistungen in Anspruch nähmen – egal ob arm oder reich: „Ich wünsche mir, dass viele Weddinger und Kreuzberger Familien hierher ziehen.“