: Armenian Express
Der Percussionist Arto Tuncboyaciyan sucht nach der perfekten Symbiose aus Jazz, kaukasischer Folklore und Avantgarde-Musik. Mit seiner „Armenian Navy Band“ hat er sie jetzt gefunden
VON DANIEL BAX
Vom Stadtzentrum aus kann man die Sendemasten sehen. Auf einem der umliegenden Hügel, die Eriwan umschließen, steht die berühmteste Radiostation der Welt: Radio Eriwan. Seit dem Ende der Sowjetunion, als unzählige Radio-Eriwan-Witze kursierten, ist es allerdings etwas still geworden um den Sender.
Frage an Radio Eriwan: Liegt Armenien am Meer?
Antwort: Im Prinzip nein. Sollte der Meeresspiegel aber wieder steigen, besitzt das Land immerhin schon eine Schiffskapelle.
Der biblischen Legende nach soll die Arche Noah einst am Berg Ararat vor Anker gegangen sein, und das historische Armenien reichte einmal vom Schwarzen bis zum Kaspischen Meer. Wenn jemand seine Band also „Armenian Navy Band“ nennt, kann man das auch als Anspielung verstehen. „Ehrlich gesagt, ich habe damit keine politische Botschaft verbunden“, wiegelt Arto Tuncboyaciyan jedoch ab. „Ich wollte den Leuten nur sagen: Wenn ihr an euch selbst glaubt, könnt ihr das Boot auch ohne Wasser bewegen.“
Der Percussionist Arto Tuncboyaciyan, 1957 in Istanbul geboren, ist in der Jazz-Szene eine feste Größe. Er hat an mehreren hundert Alben mitgewirkt, darunter an der Seite von Joe Zawinul, Don Cherry und Gerardo Nunez, dem spanischen Flamenco-Gitarristen. 1998 besuchte Arto Tuncboyaciyan das erste Mal Armenien. „Ich ging gleich in einen Jazz-Club“, erzählt er beim Gespräch in einem gesichtslosen Hotelzimmer in Eriwan. Spontan gesellte er sich zu der Band auf der Bühne. Daraus entwickelte sich eine Jam-Session, die bis in den frühen Morgen andauerte.
Mit der Zeit kam er immer öfter nach Eriwan und begann, die besten Musiker der Stadt um sich zu scharen. Bald hatte er eine All-Star-Band im Alter zwischen 20 und 45 Jahren um sich versammelt, zehn Männer und eine Frau, die sowohl traditionell-orientalische Folkinstrumente wie die Kanun-Zither oder die Kniegeige Kemence beherrschen als auch westlich-moderne Instrumente wie Posaune, Schlagzeug und Bass. Mit dieser Besetzung spielte er drei Alben ein, zuletzt „Natural Seeds“: Ein 50-minütiges Opus, das als Teil einer Trilogie angelegt ist, und in dem sich Arto Tuncboyaciyans Lebensphilosophie mit einem Schuss Naturmystik paart.
Es ist die Erfüllung eines langen Musikerlebens. Denn Arto Tuncboyaciyan hat schon eine Menge hinter sich. Angeleitet von seinem neun Jahre älteren Bruder Onno Tunc, machte er in den Siebzigerjahren in der Türkei zunächst als Studiomusiker Karriere. „Ich habe mit der Musik angefangen, weil wir das Geld brauchten“, sagt der Percussionist rückblickend. „Und wenn türkische Musiker gut waren, dann mussten wir, als Armenier, noch besser sein.“ Er wurde der Beste und entwickelte auf selbst gebauten Instrumenten seinen ganz eigenen Stil.
Nach dem Militärputsch in der Türkei ging Arto Tuncboyaciyan 1981 in die USA – er war politisch aktiv gewesen und wollte seine Familie nicht in Gefahr bringen. Noch heute trägt er bunte Perlen an den Schnürsenkeln seiner Sportschuhe als Erinnerung an jene Freunde, die weniger Glück hatten als er. Während Arto Tuncboyaciyan in den USA Anschluss an internationale Jazz-Kreise fand, stieg sein Bruder in der Türkei zum gefragtesten Komponisten und Arrangeur des Landes auf. Als Lebenspartner der populären Sängerin Sezen Aksu beförderte Onno Tunc maßgeblich deren Karriere.
Bis heute hegt Arto Tuncboyaciyan große Bewunderung für seinen Bruder. „Er war derjenige, der mir mit der Taschenlampe den Weg gewiesen hat. Heute laufe ich mit diesem Licht“, sagt er. Bis Mitte der Neunzigerjahre war Arto Tuncboyaciyan an vielen Alben beteiligt, mit denen sein Bruder die türkische Musikszene revolutionierte. Denn wann immer sich Onno Tunc etwas Neues einfallen ließ, ob nun einen Disko-Effekt oder ein Darbuka-Solo, folgten ihm die anderen Arrangeure und Komponisten in der Türkei. Dabei war Onno Tunc ein Autodidakt: Gerne erzählt Arto Tuncboyaciyan die Anekdote aus den Anfangstagen, wie sich sein Bruder über Nacht selbst das Notenlesen beibrachte, weil ihn Tags zuvor jemand darauf angesprochen hatte.
Es war denn auch der plötzliche Tod seines Bruders, der Arto Tuncboyaciyans Leben eine neue Wendung gab. 1996 kam Onno Tunc bei einem tragischen Flugzeugabsturz ums Leben: Ein Lotse hatte dessen Propellermaschine an einem Berg zerschellen lassen. „Als er starb und ich anfing zu schreiben, kamen all die Sachen wieder, die ich aufgeschnappt hatte, als ich neben ihm saß“, sagt Arto Tuncboyaciyan. „Das, was Sie jetzt hören, ist auch ein Teil von Onno.“ So versucht er nun, das Werk des Bruders zu vollenden. Und ihm ist damit vergönnt, was diesem zeit seines Lebens versagt blieb: internationale Anerkennung.
Beide wuchsen zusammen in einfachen Verhältnissen auf, der Vater arbeitete als Schuhmacher. „Wenn wir die Tür schlossen, lebten wir wie eine armenische Familie in Anatolien“, sagt Arto Tuncboyaciyan. „Wir haben uns auf einem sehr kleinen Territorium bewegt.“ Auf der Schule lernte er Armenisch, sein Bruder sang im Kirchenchor, doch zu Hause war die Sprache tabu. Noch heute spricht Arto Tuncboyaciyan deshalb nur gebrochen Armenisch. Und seine Mutter habe sogar noch auf Besuch in den USA stets die Fenster geschlossen, wenn Armenisch gesprochen wurde, erzählt er.
Dass er und sein Bruder zwei grundverschiedene Charaktere waren, lässt sich schon an ihren unterschiedlichen Nachnamen ablesen: Während der eine seinen Namen der Griffigkeit wegen auf eine Silbe verkürzte, eckte der andere gerne an.
Onno Tunc suchte stets den Mainstream-Erfolg und komponierte jahrelang die türkischen Beiträge zum Grand Prix. Arto Tuncboyaciyan dagegen traf in den USA zuletzt immer wieder mit armenischen Künstlern zusammen: mit dem Oud-Spieler Ara Dinkjan oder, für sein jüngstes Projekt „Serart“, mit dem Rockmusiker Serj Tankian von der Band „System of a Down“.
So entdeckte er spät auch das Land für sich. „Armenien ist wie eine geheime Schachtel, die man öffnet“, beschreibt Arto Tuncboyaciyan seine Faszination. Der Kleinstaat in dem zerklüfteten Hochland im Kaukasus besitzt nicht nur eine jahrhundertealte Hochkultur, die seit dem 3. Jahrhundert christlich geprägt ist, sondern sogar eine eigene Schrift. Doch das 20. Jahrhundert war für die Armenier eine fortwährende Katastrophe: Noch immer wirkt das Trauma der türkischen Massaker an der armenischen Minderheit von 1895/96 und 1914/15 nach sowie das diktatorische Erbe der Sowjetunion. Ein verheerendes Erdbeben im Jahre 1988 sowie der Konflikt mit dem Nachbarn Aserbaidschan um die Enklave Nagorny-Karabach haben ein Übriges getan, das Land zu Boden zu drücken.
Die Hauptstadt Eriwan macht auf den ersten Blick den Eindruck einer durchschnittlichen Stadt in Osteuropa – die Nähe zum Orient, zum Iran und zur Osttürkei ist kaum zu spüren. Die prächtigen Fassaden an den großen Boulevards stammen allesamt aus dem Zwanzigerjahren des vorigen Jahrhunderts, haben aber schon bessere Zeiten gesehen. Dazwischen finden sich ein paar typische Dokumente sozialistischer Einheitsarchitektur. Am schönsten ist die Stadt bei Nacht, wenn das Licht aus den besseren Schaufenstern und an den repräsentativen Amtsgebäuden Glanzpunkte setzt und das schmutzige Grau und die Risse in den Häuserwänden gnädig im Dunkeln versinken lässt.
Der Jazz besitzt in Eriwan, wie in vielen Republiken der ehemaligen Sowjetunion und ihrer Satelliten, eine lange Tradition. Schon in den Dreißigern gab es hier erste Bands, die dem US-Vorbild folgten, aber allmählich eine eigene Sprache entwickelten, indem sie Elemente aus der armenischen Folklore aufnahmen. Bis zum Ende der UdSSR blieb das allerdings eine Angelegenheit von Enthusiasten.
In letzter Zeit aber hat sich die Szene professionalisiert. Seit einigen Jahren gibt es sogar ein Jazz-Festival in Eriwan und man ist stolz darauf, einmal Chick Corea eingeladen zu haben. Aber auch die traditionelle Musik boomt: Dank der Liebhaber im Ausland haben einheimische Folklore-Stars wie der Duduk-Flötist Djivan Gasparijan ein gutes Auskommen gefunden.
Doch der Musikmarkt in Armenien krankt an der grundsätzlichen Malaise der Wirtschaft: So sind die meisten CDs der armenischen Folkstars, die in Eriwan als Raubkopien in den Läden stehen, im Ausland produziert – vor allem in Moskau, Paris oder gleich in Kalifornien, den Zentren der armenischen Diaspora.
Diese traditionellen Stücke, in modernisierte Arrangements verpackt, sprechen in erster Linie den Geschmack der weltweiten Diaspora-Kundschaft an. In Armenien könnte sich diese CDs zum Normalpreis niemand leisten. Dieses Ungleichgewicht wirft ein Schlaglicht auf die Abhängigkeit der 3 Millionen Einwohner Armeniens von den rund 9 Millionen Menschen in der Diaspora. An deren Tropf – durch Subventionen, private Überweisungen und Investitionen – hängt das Land zum guten Teil. Auch Arto Tuncboyaciyan betätigt sich in Eriwan als Investor. Vor kurzem eröffnete er dort einen Musikclub, zu dessen Eröffnung er ein gutes Dutzend Journalisten aus ganz Europa nach Eriwan einlud. Fast jeden Abend tritt er mit seiner „Armenian Navy Band“ nun dort auf, wenn er nicht gerade auf Tournee im Ausland ist.
Am Eröffnungsabend stehen Nüsse und Knabberkram sowie Flaschen mit Cognac und Rotwein auf dem Tisch, und ein buntes Publikum aus lokalen Intellektuellen, befreundeten Musikern und ausländischen Gästen hat sich eingefunden. Zunächst gibt es ein ausführliches Vorprogramm: Ein Clown trötet „Summertime“ auf der Duduk, dem armenischen Nationalinstrument. Dann folgen ein vierköpfiger polyphoner Chor und ein Duduk-Quartett, bevor endlich die Armenian Navy Band die Bühne besteigt: Mit den traditionellen Instrumenten in der ersten Reihe, dahinter Schlagzeug, Keyboard und Gitarren, eingerahmt von einer vierköpfigen Bläsersektion. Vom Seitenrand aus treibt Arto Tuncboyaciyan seine Band an, klopft sich die Finger an seinen Congas wund, bläst mal eine melancholische Melodie auf einer Flasche, trommelt auf einem Kochtopf oder stimmt schamanische Gesänge an: eine armenische Folk-Sinfonie mit jazzigen Ausbrüchen.
Am letzten Tag führt Arto Tuncboyaciyan seine Gäste zum Ausflug in die Berge, zum Geghard-Kloster mit seinen in Felshöhlen eingelassenen Kapellen. Auf dem Weg aus der Stadt säumen verrostete Skelette ausgeschlachteter Autos den Straßenrand; später werden sie abgelöst von Kindern, die Blumen feilbieten. Auf halber Strecke hat man eine prächtige Sicht auf den Berg Ararat, der auf der anderen Seite des Tals liegt, in der Türkei.
Dorthin zieht es Arto Tuncboyaciyan nicht mehr zurück. Seit im vergangenen Jahr auch seine Mutter gestorben ist, weniger denn je. „Wenn ich heute nach Istanbul komme, halte ich es keine fünf Minuten mehr aus. Mir gefällt Eriwan besser, denn hier bin ich in fünf Minuten in den Bergen“, sagt der 46-Jährige.
„Vor dreißig, vierzig Jahren war Istanbul noch eine andere Stadt. Damals konnte man noch von überall in den Bosporus springen. Heute ist es überall schmutzig.“ Und dann stimmt er in die auch in Istanbul weit verbreitete Wehklage über den Verlust einstiger Weltläufigkeit ein: „Die Menschen aus Anatolien, die heute die Mehrheit stellen, haben eine andere Kultur mitgebracht, ein anderes Essen, eine andere Musik. Das Istanbul von früher besaß einen sehr griechischen Charakter. Aber als die letzten Griechen nach 1974 Istanbul verließen, war es so, als hätte jemand das Licht ausgemacht.“
Mit diesem Kapitel seiner Biografie hat Arto Tuncboyaciyan inzwischen abgeschlossen. Und dafür ein neues aufgeschlagen.
Tournee: 24. 4. Detmold, 27. 4. Köln (Triennale), 5. 5. Stuttgart
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