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MATTHIAS URBACH über DER PERFEKTE KAUFRockstars, ganz in Weiß

„Sie sehen doch, was hier los ist!“ – mit diesem Spruch wird gerne die Wartezeit im Vorzimmer erklärt. Tatsächlich leiden Patienten vor allem unter dem katastrophalen Zeit-Management der Ärzte

Wer zum Arzt geht, hat viel Zeit zum Nachdenken. Die Mehrzahl kriegt es nicht hin, einen simplen Termin einzuhalten. Einen Zeitpunkt, an dem Doktor und Patient sich treffen. Die meisten Ärzte halten das Durchblättern von veralteten Illustrierten im Wartezimmer für so selbstverständlich wie der Rockstar im Konzert seine Vorgruppe.

Ist es einem ausnahmsweise gelungen, die Sprechstundenhilfe zwischen zwei Telefonaten zu fragen, wie lange es ungefähr dauern wird, lautet die Antwort garantiert: „Vielleicht eine halbe Stunde.“ Eine halbe Stunde – das ist das, was ein Normalsterblicher für eben noch akzeptabel hält. Im Klartext bedeutet „vielleicht eine halbe Stunde“ ärztliche Sterbehilfe für meinen Tagesplan. Es wird natürlich länger dauern. Viel länger. Die Sprechstundenhilfe weiß es, ich weiß es – und trotzdem trolle ich mich brav auf meinen schwarzen Freischwinger-Stuhl, bei dem unterm angefransten Leder eine Chromstange aus der Sitzhalterung fällt, sobald ich mich setze. Und warte.

Nach einer Stunde bäume ich mich kurz auf. „Warum dauert es denn so lange – ich hatte doch einen Termin?“ Die Sprechstundenhilfe giftet zurück: „Sie sehen doch, was hier los ist!“

Nach anderthalb Stunden beginne ich mich ernsthaft für die Aquarelle an der Wand zu interessieren. Auf dem Glastisch stapelt sich in Lesezirkelblau eingeschlagenes Altpapier.

Die Praxisgebühr mag einige Haken haben, aber für eines bin ich ihren Erfindern sehr dankbar. Dass sie noch einmal deutlich machen, wer zahlt. Die meisten Ärzte tun doch so, als wäre es ihre Kassenärztliche Vereinigung, die sie finanziert. Dabei zweigt mein Arbeitgeber einen Haufen Versicherungsbeiträge von meinem Lohn ab. Sie nennen uns Patienten, aber wir sind Kunden, die eine Dienstleistung kaufen. Und wollen entsprechend behandelt werden.

Dann endlich ruft die Kundenbetreuerin aus dem Behandlungsflur: „Herr Urbach, Kabine drei! Und machen Sie sich schon mal frei.“ Ich habe inzwischen gelernt, dass ich meine Lektüre mitnehmen sollte. Und seit ich einmal wegen eines Knieproblems eine halbe Stunde mit heruntergelassener Hose auf der Behandlungsliege saß, mache ich mich auch nicht mehr frei.

Vermutlich ließe sich die finanzielle Misere der Krankenkassen spielend lösen, dürften Deutschlands Patienten nur arbeiten, anstatt im ärztlichen Sammellager zu schmoren. Das medizinische Termin-Management dürfte die Volkswirtschaft etwa so viel kosten wie eine Wiedereinführung des Buß- und Bettages als Feiertag.

Dieses Mal spreche ich den Doktor direkt auf sein Termin-Desaster an. Er lehnt sich zurück, kreuzt die Arme und fixiert mich. „Ich kann nun mal nicht weniger Patienten annehmen“, belehrt er mich. An den „Chronischen“ allein verdiene er zu wenig, er sei auf die Notfallpatienten angewiesen. „Aber ich kenne auch belebte Praxen, wo es deutlich schneller geht.“ Mein Doktor wird ungehalten: „Wir haben hier die üblichen Wartezeiten. Alle Kollegen, mit denen ich rede, handhaben es genauso.“ Er beugt sich vor: „Daran lässt sich nichts ändern.“ – „Aber …“ – „Und nun machen Sie sich bitte frei“, er lächelt maliziös. „Wir wollen die anderen Patienten doch nicht unnötig warten lassen.“

Ich beschließe, nicht weiter zu insistieren. Schließlich fummelt er an meinem Körper herum.

Sprechstundenhilfen werben gerne um Mitleid für ihre Chefs. „Er macht kaum mal ordentlich Mittagspause“ und „abends hat er nie pünktlich Schluss.“ Genau das ist der Punkt: Würden sie schlicht die Realität akzeptieren und entsprechend ihre Termine vergeben, wäre das Wartezimmer im Nu leer.

Im Internet stöbere ich eine Fallstudie auf: Sie geht von einer möglichen Wartezeit von 20 bis 30 Minuten aus – falls die Ärzte sich nur ein wenig besser organisierten. Die meisten vergeben Termine nur bis 18 Uhr. Sie „schieben“ Notfälle „dazwischen“, ohne dafür Zeit zu reservieren. Arztpausen und Telefonate werden „schnell mal“ eingeschoben, statt ordentlich Zeit zu reservieren. Es gibt nur eine Standard-Terminlänge, anstatt für absehbar aufwändigere Behandlungen mehr Zeit zu blocken. Und gern kommt der Arzt auch mal zu spät. So arbeiten die Damen und Herren ihre Termine bis 19 Uhr ab – anstatt Zeiten zu reservieren und von vornherein bis zum wirklichen Dienstschluss Termine zu vergeben. Wie anders wäre es, würden auch Kassenpatienten wie Privatversicherte das Geld auslegen, um es dann voll von der Kasse erstattet zu bekommen. Dann wäre endlich klar, wer hier der Boss ist.

Fazit: Ärzte sind Dienstleister, keine Rockstars. Eine kleine Behandlung ohne Wartezeit wäre der perfekte Kauf.

Fotohinweis: MATTHIAS URBACH DER PERFEKTE KAUF Fragen zur Gesundheit? kolumne@taz.de Dienstag: Bernhard Pötter über KINDER

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