„Kinder sind keine Fässer“

Die Filme des Hamburger Regisseurs Reinhard Kahl dokumentieren gelungene Schulen – in Deutschland und anderswo. Die Hamburger Schulbehörde will seine Filme nun intern verteilen. Ein Gespräch über das Lernen und die Veränderung von unten

REINHARD KAHL, 60, ist Journalist, Filmemacher und Gründer des „Archivs der Zukunft“. Seine DVD „Treibhäuser der Zukunft“ verkaufte sich über 50.000 mal. Wenn vom erhofften Mentalitätswechsel im deutschen Bildungswesen die Rede ist, verweisen Annette Schavan wie auch Peter Sloterdijk gerne auf seine Arbeiten.

INTERVIEW: MART-JAN KNOCHE

taz: Herr Kahl, die Hamburger Schulbehörde hat bei Ihnen 5.000 Stück Ihrer DVD „Auf der Suche nach der Schule der Zukunft“ bestellt. Was ist das für ein Zeichen, dass sich die Politik für Ihre Filme interessiert?

Reinhard Kahl: Die zehn Clips dokumentieren gelungene Schulen in Deutschland und anderen Ländern. Sie zeigen, dass Veränderungen im Schulsystem stärker von unten kommen müssen. Von oben müssen natürlich entscheidende Bedingungen geschaffen werden, aber die Politik kann sich auf den Kopf stellen – sie allein vermag keine guten Schulen zu machen. Insofern ist es interessant, dass eine Schulsenatorin diesen Ansatz fördert.

Der DVD könnte man den Untertitel geben: Lob des Reformierens.

Reform heißt ja nur, dass etwas verändert werden soll. Mir geht es darum, dass das eigene Lernen und die eigene Schule selbst in die Hand genommen werden. Für viele klingt Lernen in der Schule nach Außensteuerung: „Jetzt muss ich“. Lernen erscheint wie das Einnehmen bitterer Medizin – je bitterer desto wirksamer. Die Filme dagegen zeigen: Schulen können Orte sein, wo Menschen auf den Geschmack kommen, zu lernen. Das klingt fundamental banal, ist aber etwas Ungeheures, gemessen an dieser Dominanz von Außensteuerung. Gerade an der gymnasialen Oberstufe erinnert das Lernen immer mehr an Bulimie: Da wird viel aufgesogen und schnell wieder vergessen, oder eben: ausgekotzt. Das ist wenig nachhaltig und nach dreizehn Jahren hat man häufig das Lernen verlernt. Das ist doch grotesk.

Hat die deutsche Schullandschaft auf Schwarz-Grün gewartet, um eine neue bildungspolitische Produktivität zu erleben?

Ich könnte mir auch andere Konstellationen vorstellen. Aber es liegen doch ein paar Chancen darin. Wenn Hamburgs fragmentiertes vielgliedriges Schulsystem stärker integriert wird und die Schulen zu eigenwilligen kulturellen Orten werden, dann gäbe es wirkliche Chancen.

2009 könnte Bremen die rote Pisa-Laterne an Hamburg abgeben. Sorgt das für einen belebenden Wettbewerb im Norden?

Ja, schon. Aber wenn man nur nach der Pisa-Latte strebt, besteht die Gefahr, dass man versucht, sich durch ein Training zum Test selbst zu betrügen. Pisa zeigt einfach, dass nachhaltiges Lernen bei uns vergleichsweise schwach ist – im Norden besonders.

Was sind die Ursachen für das Süd-Nord-Gefälle?

Das hat viele Gründe. Dazu gehört die Misere der alten Industriestandorte wie Hamburg und Bremen, mit ihren zahlreichen kaputten Biografien.

Was für Biografien?

Naja, wenn Kinder in Armut aufwachsen; wenn sie sich vom Leben nicht viel versprechen; wenn der Konsum von Videos, Süßigkeiten und Co. die Lebenswelt bestimmt. Das sind oft die grundlegenden Bildungserfahrungen – denen müssen die Schulen andere entgegensetzen. Und solche Schulen gibt es. Der Hauptfilm auf der DVD zeigt vier Schulen, die mit dem deutschen Schulpreis ausgezeichnet wurden. Die beweisen, wie viel man bewegen kann.

Im Bremer Sommercamp für Schüler mit Sprachdefiziten lernen Kinder in drei Wochen soviel wie in einem ganzen Schuljahr, wie das Max-Planck-Institut für Bildungsforschung ermittelte. Trotzdem macht die Politik diese erfolgreichen Konzepte nicht zur Regel, sondern belässt sie in der Ausnahmerolle. Warum?

Weil man dem freieren Lernen nicht wirklich traut; weil man noch immer denkt, dass das Abfüllen von Fässern wirksamer sei, als das Entzünden von Flammen. Auf der Hülle der DVD steht dieses 500 Jahre alte Zitat von François Rabelais: „Kinder sind keine Fässer die gefüllt, sondern Feuer, die entfacht werden wollen.“ Das ist der Punkt.

Die Bremer Bildungspolitik glaubt noch an den Nürnberger Trichter – der Lehrer gießt sein Wissen in die Kinderköpfe?

So würde ich das nicht sagen. In Bremen und auch anderswo findet das Sommercamp viele Nachahmer. Mittlerweile wird es in Berlin, Frankfurt und im Ruhrgebiet veranstaltet. Langsam wird erkannt, dass die Mischung aus lehrreichem Unterricht, Theater spielen und Freizeit eine sehr produktive ist.

Sie sagen, dass die Lehrer ihrem eigenen Unterricht die Misere zuletzt zugeschrieben haben. Tatsächlich wirkt die DVD wie eine Botschaft an alle Lehrer. Nach dem Motto: Ihr müsstet eigentlich zur Nachhilfe. Ein Weckruf?

Ja – aber es ist vor allem der Versuch zu zeigen, wie Schulen gelingen. Darin steckt eine größere Subversionskraft, als Leute nur zu kritisieren und klein zu machen. Ich denke dabei an den Satz der Bremer Stadtmusikanten: Etwas Besseres als den Tod finden wir überall. Wenn die Lehrer stärker aus sich herauskommen und neugieriger werden, sind bessere Ergebnisse bei den Schülern die Folge – und eine bessere Lebensqualität bei den Pädagogen.

Wie soll das geschehen? Die DVD wird verteilt – und was kommt danach?

Ich setze auf den Lernvirus, auf Erreger einer ansteckenden Gesundheit. Wer sich die Filme ansieht, wird vielleicht auch mal eine solche Schule besuchen, aber sie nicht kopieren, sondern von ihnen lernen. Lernen ist das Gegenteil von Kopieren.

Aber ist das allein Sache der Lehrer? Lehrer, die vor allem Frontalunterricht gelernt haben, müssen doch auch Möglichkeiten der Fortbildung bekommen.

Ja, das ist in Hamburg wohl auch geplant. Mehr noch als Fortbildung brauchen Lehrer Zeit in Form von Stundendeputaten. Sie brauchen Zeit, ihre Schulen selbst entwickeln zu können. Sonst führt das zu Lehrern, die bereits mit vierzig an ihre Pensionierung denken.

Sie fordern, die Vernetzung unter pädagogischen Beamten zur Dienstpflicht zu erheben.

Habe ich das mal geschrieben?

In Ihrer „Zeit“-Kolumne.

Ja, viele Lehrer sind sehr einzelkämpferisch, teilweise sogar misanthropisch. Eigentlich sollten sie in den Schulen den Kern einer Kultur von Zusammenarbeit bilden. In den gelungenen Schulen sieht man, wie das geht: Lehrer tauschen sich aus, machen Projekte zusammen, geben Unterrichtskonzepte an Kollegen weiter. Sie praktizieren Arbeitsteilung, und leben nicht jeder für sich aus dem eigenen Leitz-Ordner heraus.

Wie lässt sich ein Klima erschaffen, dass gelungene Schulen hervorbringt?

Schule braucht Gesellschaft. Gerade in Hamburg wird die Schulreform nur funktionieren, wenn die Stadt sie will. Die Hamburger müssen wollen, dass ihre Schulen die interessantesten kulturellen Orte in der Stadt werden.