piwik no script img

Die Dienstordnung verfügt die hormonelle Ekstase

Beim 100-Kilometer-Lauf im schweizerischen Biel suchen herzlich normale Hobbyextremsportler nach ihrem „inneren Schweinhund“

BIEL taz ■ Statt eines schönen Tags wünscht die Kassiererin im Supermarkt am Eisstadion des schweizerischen Städtchens Biel eine gute Nacht – zur Mittagszeit und hintergründig lächelnd. Zwischen der großen Steige Bananen (sehr beliebt) und dem Kühlschrank mit den isotonischen Getränken (noch beliebter) drängeln sich den ganzen Freitag über Männer und Frauen in szenetypischen T-Shirts. „Röntgenlauf Remscheid“ ist auf diesen zu lesen oder „Finisher Zürichmarathon“. Am nächsten Tag werden die meisten von ihnen ein weiteres Leibchen in Empfang nehmen: Sie haben die ganze Nacht hindurch, manche von ihnen bis in die Nachmittagsstunden des Samstags hinein den 45. 100-Kilometer-Lauf von Biel bewältigt.

Freitagabend 22 Uhr fällt der Startschuss. Rund 1.300 Läuferinnen und Läufer machen sich bei gleißendem Mondschein und tropischen Temperaturen auf den langen Weg. Einhellig geäußerter Grund für die selbst auferlegte Tortur ist der „innere Schweinehund“, die Überwindung desselbigen und die bei Höchstleistungen angeblich ausgeschütteten Glückshormone. „Morgen früh sehen wir uns hier wieder“, ruft der Moderator den durch die Bieler Innenstadt Abziehenden hinterher.

„Abwarten“, denkt sich Sasa Kostadinovic aus Berlin. Der 30-Jährige hat sich beim gemütlichen Laufen am Nachmittag den Fuß verstaucht. Mehrere Sanitäter werkeln an ihm herum, doch er sieht sein Ziel von einer Zeit unter 10 Stunden gefährdet. Kostadinovic ärgert sich, aber das Malheur sichert ihm immerhin eine Nennung in der Lokalzeitung. Am nächsten Morgen läuft er doch 40 Sekunden vor 8 Uhr über die Ziellinie. Leicht entrückt spricht er von „genug Selbstvertrauen“, „einem Klasse- Lauf“ und dass er sich aufs Duschen, aufs Bierchen und aufs Schlafen freut.

Während Kostadinovic das erste Bier bestellt, werden im Festzelt bereits die Sieger gekürt. Gerade einmal 7:07:23 Stunden hat der Deutschschweizer Martin Job für die hügelige 100-Kilometer-Strecke gebraucht, 8:43:27 die Französischschweizerin Tsilla Rossel. Gleich zweimal erklingt die Hymne der Eidgenossen, doch zumindest im Frauenwettbewerb haben sich auch die Deutschen gut geschlagen. Die Vorjahressiegerin Isabella Bernhard aus Maxdorf kommt als Zweite, Jutta Kolenc vom Bodensee als Dritte ins Ziel. Die 43-Jährige hatte eigentlich eine Zeit um 9:30 Stunden angepeilt, „aber dann lief es so rund“, dass die Uhr bei 8:50:07 Stunden stehenbleibt. Erschöpft wirkt sie nicht.

Weniger rund, sondern „sehr, sehr anstrengend“ empfindet Hanno Arnold im Zielbereich die in 11:21 Stunden zurückgelegten 100 Kilometer. Der Dresdner hat vor gerade einmal vier Wochen den Thüringer Rennsteiglauf absolviert und war plötzlich Feuer und Flamme für Biel. „Ein Monat Abstand zwischen zwei Ultraläufen reicht nicht“, muss er jetzt jedoch feststellen. Arnold haben vor allem eine längere Abwärtspassage nach Kilometer 80 und die schon in den frühen Morgenstunden wieder warmen Temperaturen zugesetzt. Hormonellle Glückszustände sehen anders aus.

In und um Biel haben sich nicht nur die Läufer, sondern auch viele Zuschauer die Nacht um die Ohren geschlagen. „Die Stimmung an der Strecke ist so toll, die sitzen noch um 4 Uhr morgens da“, begeistert sich Claudia Stader aus Langenfeld bei Köln. Sie kommt nach guten 10:20 Stunden ins Ziel und ruft als Erstes glücksstrahlend Freund Guido an. Der ist noch auf der Strecke, in etwa bei Kilometer 70.

Bis kurz vor Toreschluss müssen die verbliebenen Beklatscher auf den letzten Berliner warten. Andreas heißt der, ist Militärpolizist und in beruflicher Mission 21:35 Stunden unterwegs: Die Dienstordnung legt ihm eine gewisse Anzahl an Gewaltmärschen auf. Da verbindet sich das Angenehme mit dem Unabwendbaren: „Ich bin das erste Mal in der Schweiz“, erzählt er, „ und die Landschaft ist so schön.“ Sind dafür die Glückshormone verantwortlich? Ein Finisher-T-Shirt gibt’s auch für ihn. EVA SCHLÄFER

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen