„Der 11. September bleibt spürbar“

Ein politischer Film aus Thailand ist trotz Mängel im Programm: Lars Henrik Gass, Leiter der Kurzfilmtage Oberhausen über Filmemachen und Politik gestern und heute und die aktuelle Clip-Ästhetik im Angesicht der Werbevideos

taz: Oberhausen war früher ein überaus politisches Festival, in letzter Zeit eher weniger. Kann man von einer Repolitisierung des Kurzfilms sprechen?

Lars Henrik Gass: Oberhausen war niemals ein explizit ‚politisches‘ Festival in seinen Inhalten, sondern politisch der Umstände wegen. Das Oberhausener Manifest von 1968 war so eine Reaktion auf die gesellschaftlichen Verhältnisse. Ihren Befund kann ich daher so pauschal nicht bestätigen. Aber die Auswirkungen des 11. September z.B. sind heute in vielen Filmen spürbar. Nicht nur in Beiträgen aus den USA.

Wie setzen sich die Filmemacher damit auseinander?

Es liegt eine Verunsicherung in der Luft. Kulturelle Konflikte, politische Repression, die Verletzung von Menschenrechten oder auch das Gefühl des Eingesperrtseins sind Filmmotive. Aus Thailand stammt z.B. ein Beitrag, in dem es um die blutige Niederschlagung von Studentendemos in den 70er Jahren geht. Das ist neu und nicht typisch für das thailändische Kino, so dass wir den Film trotz handwerklicher Mängel in den Wettbewerb genommen haben.

Finden sich politische Themen auch im Deutschen Wettbewerbsprogramm?

So deutsch ist der Deutsche Wettbewerb übrigens gar nicht. Es gibt da viele Koproduktionen und viele Beiträge ausländischer Studierender an deutschen Filmhochschulen. Mitunter ist auch die Finanzierung das einzig deutsche an einem Film. Aber natürlich sieht man auch hier Tendenzen. Die aus Rumänien stammende, in Deutschland lebende Regisseurin Alexandra Gulea hat einen Dokumentarfilm über eine psychiatrische Anstalt in ihrem Heimatland gedreht, der politisch anklagt.

Muss ein politischer Film immer Dokumentarfilm sein?

Überhaupt nicht. Man muss sich ja zunächst einmal die Frage stellen, was ist überhaupt ‚politisch‘. Den Zuschauer durch einen neuen Blick auf die Dinge zu einer alternativen Wahrnehmung anzuregen, ist meiner Meinung nach schon politisch. Insofern gibt es auch viele unterschiedliche Ausdrucksformen jenseits des Dokumentarfilms.

Wir haben aus Ungarn einen Animationsfilm im Wettbewerb, den ich als politischen Comicstrip bezeichnen würde. In der kanadisch-französischen Koproduktion „Die Achse des Bösen“, der eine Art Musikvideo ist, singt ein Paar vor der Kulisse der Niagarafälle Redetexte von George W. Bush und stellt sie so in einen neuen Kontext.

Hat sich der aktuelle Kurzfilm in seiner Ästhetik vom Musikvideo oder vom Werbeclip, beeinflussen lassen?

Die Beeinflussung ist immer gegenseitig. Der Videoclip ist von Anfang an nicht vorstellbar ohne den Experimentalfilm. Und Regisseure wie David Fincher und Chris Cunningham haben Elemente des Videoclips in den Langfilm eingeführt, wie z.B. die starke Bearbeitung des Bildes und die visuellen Effekte. Und manche Videoclips, die zwar im Prinzip einen kommerziellen Hintergrund haben, nämlich das Musikalbum zu verkaufen, sind aufwendig produzierte Kunstwerke. Bei den Clips von Björk etwa lassen sich die entstandenen Kosten sicher nicht durch den Werbeeffekt rechtfertigen.

INTERVIEW: Holger Elfes