Deutschlands Indien liegt in Polen

Die Auslagerung nach Osteuropa erreicht die hoch qualifizierten Jobs: „Auf nach Osten“, heißt es nicht nur in Einzelhandel und Maschinenbau, sondern mittlerweile auch bei Software-Firmen. Ökonomen schätzen: Dadurch entstehen hier mehr Stellen

AUS BERLIN HANNES KOCH

Wie müssen wir uns heute eine vaterlandslose Gesellin vorstellen? Zum Beispiel so: Annegret Fiebig arbeitet beim Fernsehsender Pro7 in München, spricht fließend Russisch und Englisch und verdient nicht schlecht. Als Offshore-Managerin leitet sie eine Tochterfirma von Pro7 in der weißrussischen Hauptstadt Minsk, in der 30 Beschäftigte Software für Deutschland entwickeln.

„Offshore“ ist mittlerweile vom Fachausdruck zum Schimpfwort mutiert. Im Sprachgebrauch mancher Politiker – Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) ist einer von ihnen –steht die Verlagerung von Arbeitsplätzen ins Ausland auf einer Stufe mit krimineller Steuerflucht. Für beides droht die politisch-moralische Höchststrafe: Exkommunizierung aus der Gemeinde der ehrbaren Bürger.

Dabei handelt Annegret Fiebig in Einklang mit dem, was gemeinhin als Ziel europäischer Politik im Osten gilt: wirtschaftlicher Austausch zur beiderseitigen Hebung des Wohlstandes. Nichts anderes ist der Sinn des Beitritts zehn weiterer Staaten zur Europäischen Union, der am 1. Mai unter anderem in Polen, Ungarn und Slowenien groß gefeiert wird.

Pro7 ist geografisch allerdings schon einen Schritt weiter. Nicht nur in Polen, sondern auch in Weißrussland sind hoch qualifizierte Software-Entwickler zu finden. Letztere haben einen Vorteil gegenüber ihren Kollegen in Warschau oder Wrocław: Die Löhne sind noch ein bisschen niedriger. Während in München die Arbeitsstunde eines spezialisierten Programm-Entwicklers mit 65 Euro zu Buche schlagen kann, liegt die Größenordnung in Polen unter 30 Euro und in Weißrussland bei 15 Euro. Hinzu kommen allerdings oft noch beträchtliche Kosten für die Verwaltung der Auslandsprojekte. Trotz allem aber scheint der Vorteil für das süddeutsche Medienunternehmen so groß zu sein, dass es sich lohnt, gleich die komplette Software für das neue System der Pro7-Nachrichtenredaktion in Minsk entwickeln zu lassen.

Dabei ist die Medienfirma kein Einzelfall: So will die Münchner Software Design & Management AG (sd&m) noch in diesem Jahr ein Entwicklungszentrum im polnischen Wrocław mit 50 Stellen eröffnen. Gegenüber dem deutschen Kostenniveau rechnet sd&m-Personalvorstand Dirk Taubner dabei unter dem Strich mit einer Ersparnis von 20 Prozent. Und bei Siemens droht die Konzernführung mit der Auslagerung tausender Stellen.

Neu ist das Thema nicht, aber der Fokus verschiebt sich. Haben europäische und nordamerikanische Unternehmen in den vergangenen Jahren Callcenter, Bankfabriken und Softwarecenter in Indien errichtet, kommt mittlerweile Osteuropa in den Blick – bedingt auch durch die bevorstehende EU-Erweiterung.

„Die Auslagerung nach Osteuropa nimmt zu“, sagt Gabor Hunya vom Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche. Über Zahlen existieren freilich nur Schätzungen. Nach einer Prognose der Deutschen Bank könnten von heute 1,4 Millionen Stellen der in Deutschland ansässigen Informationstechnologie bis 2008 etwa 50.000 Jobs ausgelagert werden. Zielländer seien dabei außer Indien auch Ungarn und die Slowakei.

Ein Gefahr für die einheimische Wirtschaft und ihre hiesigen Arbeitnehmer? „Nein“, sagen die sechs wichtigsten deutschen Wirtschaftsforschungsinstitute in ihrem gerade veröffentlichten Frühjahrsgutachten: „Der Saldo ist positiv.“ Die Auslagerung nach Osten und Süden verbessere die Wettbewerbsposition der Unternehmen und schaffe damit die Voraussetzung für zusätzliche Jobs in Deutschland.

So argumentiert auch Annegret Fiebig von Pro7: Minsk nehme München nichts weg, nur die Spezialisierung in Entwicklung dort und Projektmanagement hier werde vorangetrieben. Einen Nachteil hat Fiebigs Darstellung: Mit konkreten Zahlen aus dem Unternehmen lässt sie sich nicht belegen.